Was sehen eigentlich Blinde? Warum können sie rechts und links nicht unterscheiden? Und was machen all die Sehbehinderten im Gundeli? Unsere Quartierbloggerin hat bei der Sehbehindertenhilfe Basel nachgefragt.
Draussen ist ein heisser Sommernachmittag, als ich vor der Tür in der Sehbehindertenhilfe stehe. Hinter der Schiebetür ist es angenehm kühl. Am Empfang unterhalten sich zwei Männer. Ich sage nichts und warte höflich, bis die Unterhaltung beendet ist, aber es passiert nichts. «Du, da wartet jemand», sagt einer nach ein paar Minuten. Daran, mich akustisch bemerkbar zu machen, habe ich nicht gedacht. Der Rezepionist begrüsst mich etwas verlegen. Ich melde ich mich an während er leicht seitlich an mir vorbeisieht. Die Uhren ticken hier in der Zürcherstrasse nicht anders, aber ein Teil der Mitarbeiter kann sie nicht sehen.
Wie es ist, blind zu sein, möchte ich wissen. Was passiert, wenn man plötzlich blind wird? Was ändert sich dadurch? Und wer hilft einem dabei, damit zurechtzukommen?
Deshalb warte ich auf jemanden, der das wissen muss. Stefan Kaune ist Geschäftsführer der Sehbehindertenhilfe Basel (SBH). Am Empfang wird unterdessen weiter gearbeitet. «MicrosoftWordBittemachenSieeineEingabe» sagt der PC in rasender Geschwindigkeit.
Andere Systematik für den Alltag benötigt
«Den typischen Blinden gibt es nicht» sagt Kaune gleich zu Beginn. Blindheit hat viele Ursachen und zieht sich durch alle Altersstufen. Die Annahme, dass Blinde nur schwarz sehen, ist falsch. Die meisten Blinden sehen Schatten, Blitze oder Lichtreflexe. Oder sie sehen nur einen winzigen Bildausschnitt, im Zentrum oder am Rande des Sehfeldes. Manche sind stark geblendet, bei anderen ist alles verschwommen. Ungefähr 350’000 Blinde und Sehbehinderte gibt es in der Schweiz, nur 10 Prozent davon sind vollblind, erfahre ich.
«Typisch für alle Blinden ist vielleicht die Art, wie sie ihren Alltag organisieren», erklärt Stefan Kaune. «Man braucht eine ganz andere Systematik, wenn man blind ist». Eine andere Ordnung zuhause, eine andere Orientierung in der Stadt, eine neue Organisation des eigenen Lebens. «Wer Kinder hat, die daheim ab und zu alles durcheinanderbringen, hat damit zum Beispiel schon ein bisschen mehr Arbeit als ein Sehender.»
«Es geht viel mehr, als man sich so vorstellt»
Auf die Frage, was sich denn ändert, wenn jemand erblindet, sagt Kaune: «Es geht vor allem alles sehr viel langsamer» und «es geht viel mehr, als man sich so vorstellt».
Blind wird man nicht einfach so. Wer nicht von Geburt an blind ist, wird meist allmählich blind. In der Schweiz am häufigsten aufgrund einer Krankheit wie dem grauen Star. Weltweit sind Infektionen und mangelnder Zugang zu sauberem Wasser die häufigsten Ursachen für Blindheit. Diabetiker, erfahre ich, werden selten völlig blind, obwohl die Krankheit das Sehvermögen beeinträchtigt. Kaum eine Rolle spielen Unfälle oder Verbrechen. «Von den ungefähr 2000 Personen, die wir in der SBH Basel im Jahr umterstützen, sind das vielleicht zwei, drei», sagt Kaune.
«Blinde können ein sehr selbständiges Leben führen», sagt er weiter. Wie selbständig, sei eine persönliche Angelegenheit. Menschen reagieren unterschiedlich darauf, blind zu werden. Wie jeder Einzelne damit fertig wird und wie lange das dauert, ist unterschiedlich. «Die Frage ist, ob man diese Realität in seinem Leben anerkennt. Wie man als Blinder leben möchte und wie viel Zeit und Energie man dafür aufwenden kann, Dinge neu zu lernen.»
Aus Hilfe wird Übergriff
Manche Dinge sind für Blinde sehr viel anders: Wer nie sehen konnte, kann rechts und links zum Beispiel kaum unterscheiden. «Raum ist für Geburtsblinde keine Kategorie», erklärt Kaune. «Ich kenne nur einen Sehenden, der Braille beherrscht», sagt er noch.
Der Aufwand, die Blindenschrift zu lernen, ist gross. Auch an andere Dinge gewöhne man sich als Blinder mehr oder weniger gut. Etwa daran, viel öfter angefasst zu werden als sehende Menschen. «Leider kommt es auch vor, dass Sehende übergriffig sind und Blinde ungefragt über die Strasse zerren, in der Annahme, das wäre hilfreich», so Kaune. Dabei verliere der Blinde «völlig die Orientierung».
Wer übrigens im Gundeldinger Quartier öfters Menschen begegnet, die gar nicht blind aussehen, aber trotzdem mit Hund und Stock unterwegs sind, hat wahrscheinlich gut beobachtet. Im Gundeli wird trainiert, denn das Quartier hat fast alles: Parks, stark befahrene Strassen, Ampeln, Menschenmengen, Kinder, Lärm.
Kurse für den Alltag
Bei der SBH können Blinde und Sehbehinderte in Kursen lernen, wie man das Leben auf nicht-visuell umstellen kann. Wie man kocht, einkaufen geht, Geldscheine erkennt und sogar, wie man sich schminkt. Vom sprechenden Wecker bis zum Farberkennungsgerät, das «grün» piepst oder «gelb» wenn man es an eine farbige Fläche hält, gibt es viele Hilfsmittel.
Am PC könne man mit der entsprechenden Technik eigentlich alles machen, erklärt mir Stefan Kaune und zeigt mir die Sprachausgabesoftware «Jaws», mit der man einen PC bedienen kann. «OptionenbittemachenSieeineEingabe», sagt die Stimme, die ich vom Empfang her schon kenne. So schnell, dass ich kaum folgen kann. «Das ist noch langsam», sagt mir die Mitarbeiterin, die das System bedient. «Meistens ist das sehr viel schneller eingestellt, damit man in vernünftigem Tempo arbeiten kann». Aha. Das ist also mit «neu lernen» gemeint.
Neben der Tastatur liegt ein Streifen mit Steuerelementen, auf dem kleine Pins die Schrift auf dem Bildschirm in der Blindenschrift Braille ausgeben. Bewegt man die Maus, ändert sich die Schrift, weil sich die Pins nach oben und unten bewegen. Der Computer hat trotzdem noch einen Bildschirm. «Wofür eigentlich?», frage ich mich.
«Am Aeschenplatz steigen unsere Blinden gar nicht erst aus»
Als Geschäftsführer der Sehbehindertenhilfe kümmert sich Stefan Kaune sich in erster Linie um berufliche Wiedereingliederung und um Alltägliches wie die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum. Wenn man Schilder nicht sehen und Pfeilen nicht nachgehen kann, ist es zum Beispiel viel komplizierter, Tram zu fahren.
«Am Aeschenplatz steigen unsere Blinden gar nicht erst aus», bestätigt Stefan Kaune. «Die fahren weiter bis zum Bankverein». Ein weiterer neuralgischer Punkt ist der Bahnhof SBB. An anderen Stellen klappe es dank vieler Absprachen mit den BVB und der Kantonspolizei gut.
Alles also nur eine Frage der Organisation? «Ich kenne viele coole Blinde», sagt Stefan Kaune zum Abschluss und gibt mir noch einen Lesetipp mit: den Essay «Was Blinde sehen» von Oliver Sacks. Der Mann am Empfang ist da schon nach Hause gefahren.