«Wenns ums Essen geht, sind die Leute radikalisierbar»

Isidor Wallimann gehört zu den Gründern des Netzwerks «Urban Agriculture Basel». Er kämpft um die Kontrolle über unser tägliches Essen.

Über das Essen will der Soziologe Isidor Wallimann Fragen zur Nachhaltigkeit thematisieren. (Bild: Basile Bornand)

Isidor Wallimann gehört zu den Gründern des Netzwerks «Urban Agriculture Basel». Er kämpft um die Kontrolle über unser tägliches Essen.

Für die meisten Menschen ist nicht mehr nachvollziehbar, wo ihre Nahrung herkommt und wie sie angebaut wurde. Das müsse sich ändern, fordert Isidor Wallimann, emeritierter Professor für Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Sozial­politik. Wir müssten wieder selber über unsere Lebensmittelproduktion bestimmen. Die aktuellen Projekte im Bereich der urbanen Landwirtschaft seien dabei ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Der Trendbegriff «urbane Landwirtschaft» sorgt weltweit für Schlagzeilen. Weshalb findet das Thema so viel Anklang?

Urbane Landwirtschaft ist Teil der Umweltbewegung. Mit diesem Thema gelingt es, viele junge Leute zu begeistern. Meines Erachtens sind viele Jugendliche enttäuscht von der Alltagspolitik, insbesondere auch von der Umweltpolitik. Sie ­haben ­genug von den quasi-grünen Versprechen.

Welche Alternative soll in diesem Zusammenhang die urbane Landwirtschaft bieten?

Es geht um Authentizität. Food ist authentisch. Es ist Lebensgrundlage und wirkt sich direkt auf meine Gesundheit aus, auf die Ästhetik im Essen. Zudem kann ich einen klar nachvollziehbaren Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten. Es geht dabei um soziale und ökologische Aspekte. Ich glaube, es ist die Ernährungsfrage, welche die jungen Leute heute bewegt. Im Bereich sozialer und öko­logischer Nachhaltigkeit sind Junge und Ältere aktiv und radikalisierbar, wenn es um Lebensmittel geht.

Am Mittwoch gärtnern, am Donnerstag shoppen und am Samstag einen Städtetrip nach Berlin machen. Reicht das, um die Welt zu verbessern?

Das ist der Reinheitstest. Diesen Reinheitstest hat man bei allen sozialen Bewegungen angewendet. ­Natürlich sind unsere Bedingungen nicht so, dass man die Reinheit ­leben kann. Und ich habe auch keine empirischen Daten, wie konsequent die bewegte Jugend ihr Leben führt. Ich beobachte aber, dass viele sich ernsthaft für Nachhaltigkeit und Lebensmittel interessieren.

Sie fordern, dass Lebensmittel wieder im städtischen Raum produziert werden. Ist der Raum dafür nicht viel zu klein?

Die Lebensmittelproduktion soll wieder erlebbar werden. Bei der urbanen Landwirtschaft dürfen Sie nicht nur an Familiengärten, Tiefgaragen, Dachterrassen und Innenhöfe denken. Gerade wenn man Stadt als Agglomeration denkt, wie wir das tun, sieht man viele schlecht genutzte Grünflächen. Das sind Flächen, wo Obst, Gemüse, Kräuter, Blumen und Kleintiere Platz finden können. Es lässt sich also viel mehr machen, als man auf den ersten Blick meint.

In jedem Fall wird nur ein ganz kleiner Teil des ­gesamten Bedarfs abgedeckt werden können.

Die urbane Produktion ist nicht das Hauptziel. Wenn die Lebensmittelproduktion wieder nachvollziehbar und erlebbar wird, dann wirft das für die Bevölkerung eine ganze Reihe von Fragen auf. Woher kommen die Lebensmittel, wer produziert sie, auf wessen Boden und zu welchen Bedingungen – sozial und ökologisch? Zusammenfassend geht es um Lebensmittelsicherheit und um Lebensmittelsouveränität. 

Wir sollen stärker mitbestimmen, was wir essen?

Das meint die Lebensmittelsouveränität. Es geht darum, ob wir genügend Kontrolle darüber haben, was wir essen und woher unser Essen kommt. Die Lebensmittelsicherheit betrifft Fragen nach Gesundheit und Versorgungssicherheit. In Europa findet in der Gesetzgebung gerade ein Wandel statt. So, dass der Konsument etwas besser nachvollziehen kann, wo die Lebensmittel herkommen.

Von den aktuellen Projekten im Raum Basel bis zur von Ihnen beschriebenen Vision scheint es ein weiter Weg zu sein. 

Das ist es. Vor allem, wenn wir die Produktivität im Blick haben. Viele Böden sind noch durch andere Nutzungen besetzt. Wir gehen aber nicht davon aus, dass wir eine unabhängige lokale Lebensmittelversorgung brauchen. Schlussendlich geht es um Lebensmittelpolitik, die im Englischen Food Policy heisst. Was wir wollen, ist eine Food Policy, die genau aufzeigt, wie viel wir selber produzieren können, wo die Lebensmittel für die Städte herkommen und wer sie zu welchen Bedingungen auf wessen Boden produziert.

Wie wollen Sie eine solche Politik erreichen?

Die Leute sollen selber Lebensmittel anbauen können. Dann muss ein städte­weites Netz von Lebensmittelherstellung und -verteilung entstehen. Daran arbeiten wir gerade. Der nächste Schritt ist der direkte Kontakt mit Bauern in der Umgebung und in der ganzen Schweiz. Schlussendlich muss eine Food Policy auch Rahmenbedingungen vorgeben für Lebensmittel, die ausserhalb der Schweiz und auch von Europa pro­duziert werden.

  • Isidor Wallimann ist emeritierter Pro­fessor der Fachhochschule Nordwestschweiz und Mitbegründer des «Netz Soziale Ökonomie Basel».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 03.05.13

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