Bei Facebook galt bisher: Relevanz vor Aktualität. Das soll sich nun ändern. Das soziale Netzwerk will mit Live-Videos in Echtzeit im boomenden Livestreaming-Markt mitmischen.
Im Jahr 2014 erklärte Facebook-Chef Mark Zuckerberg, sein Ziel sei es, «die perfekt personalisierte Zeitung für jeden in der Welt zu schaffen». Dieser Plan ist aufgegangen. 63 Prozent aller Nutzer konsumieren laut einer Untersuchung des Pew Research Center auch News auf Facebook. Aus der Generation der Baby Boomer lesen 40 Prozent politische Nachrichten im Netzwerk. Bei den Millennials, den zwischen 1980 und 2000 Geborenen, vertrauen auch in diesem Themenbereich fast zwei Drittel auf Facebook.
Das soziale Netzwerk wird zunehmend zum digitalen Kiosk, in den ständig aktualisierte Newsfeeds einflattern. Klassische Medienhäuser wie die «New York Times» oder der «Guardian» publizieren ihre eigenen Inhalte als Instant Articles direkt im Ökosystem von Facebook.
Bisher hatte Facebook das Problem, dass seine Nachrichten zuweilen etwas veraltet waren. Denn seine Algorithmen stellten – im Gegensatz zu denen von Twitter – Relevanz vor Echtzeit. So kommt es, dass man einen acht Stunden alten Post ganz oben im Nachrichtenstrom sieht, weil ihn ein Freund «geliked» hat oder der Inhalt mit den eigenen Präferenzen korrespondiert.
Live-Videos sind jetzt interessant, nicht später
Apps wie Snapchat setzen dagegen vollständig auf eine chronologische Darstellung von Inhalten. Facebook machte einen Schritt in diese Richtung, indem es im Dezember sein Feature Live-Video einführte. Damit können User mit dem Smartphone aufgenommene Live-Videos posten. Diese Videos landeten ganz oben im Newsfeed – allerdings nur, solange der Stream lief. Allein, warum Live-Videos einführen, wenn diese Clips nicht auch in Echtzeit angesehen werden können?
Seit Neuestem pusht Facebook diese Videos, damit sie in der Nachrichtenfülle nicht untergehen. Und unlängst kündigte das Unternehmen an, seinen Algorithmus entsprechend anpassen zu wollen: «Jetzt, wo immer mehr Leute Live-Videos anschauen, betrachten wir Live-Videos als einen neuen Content-Typ», schreiben Produktmanager Vibhi Kant und Softwareingenieur Jie Xu im Newsroom-Blog. Die Nutzer würden Live-Videos dreimal so lange anschauen wie Videos, die nicht mehr live sind. «Und zwar, weil Live-Videos zum Zeitpunkt des Sendens interessanter sind als später.»
Die Modifizierung des Newsfeed-Algorithmus markiert einen bedeutenden Strategiewechsel. Live-Videos soll deutlich mehr Gewicht eingeräumt werden. Der Live-Streaming-Markt boomt, und da will Facebook dem Konkurrenten Twitter mit seiner Live-Video-App Periscope nicht das Feld überlassen. Chef Mark Zuckerberg hat zuletzt bei der Mobilfunkmesse in Barcelona bekräftigt, dass mobilen Live-Videos die Zukunft gehöre.
Nutzer sollen länger auf der Plattform verweilen
«Vor dem Hintergrund der Marktdurchdringung von Tablets und Smartphones und einer 24/7-Kultur werden Videos immer beliebter», erklärt die Trend-Analystin Susan Schreiner von C4 Trends im Gespräch mit der TagesWoche. «Seit einigen Monaten tüfteln die Facebook-Ingenieure schon daran, Videos zu pushen und vor allem newsrelevante oder beliebte Videos oben im Newsfeed zu platzieren.»
Facebook generiert täglich mehr als acht Milliarden Videoklicks. «Facebooks Live-Video-Funktion ist eine natürliche Erweiterung als neue Content-Form», konstatiert Schreiner. «Das langfristige Ziel ist es, die Nutzer länger auf der Plattform zu halten, damit sie wertvoller für Anzeigenkunden werden.»
Die Nutzer lechzen nach Bewegtbildern. Facebook-Managerin Sheryl Sandberg tourte anlässlich der Oscar-Verleihung durch Los Angeles, um Berühmtheiten für Facebooks Live-Videos zu gewinnen. Wie das Technews-Portal «Re/code» berichtete, unterhielt sich Sandberg mit mehreren Talentagenturen. Ihre Mission: Stars aus der Film- oder Musikbranche sollen Live-Videos auf Facebook posten und dafür Werbegelder erhalten.
Die Maus als Fernbedienung für eine Dauerwerbesendung
Zwar hat Facebook noch kein Monetarisierungsmodell entwickelt, wie Youtube es schon betreibt, doch die langfristige Entwicklung weist in diese Richtung. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Facebook künftig auch mit Youtube rivalisieren und zu einem eigenen Live-Streaming-Sender mit Sparten- und Nischenkanälen avancieren könnte. Die Tochterfirma Oculus Rift hat bereits ein Filmstudio in Los Angeles eröffnet, wo eigene Virtual-Reality-Produktionen realisiert werden.
Der iranisch-kanadische Blogger und Aktivist Hossein Derakhshan, der sechs Jahre in einem Teheraner Gefängnis inhaftiert war, kritisierte im vergangenen Jahr auf dem Portal «Medium», dass sich das Internet mehr und mehr zu einem Fernsehmedium entwickle: «Der Stream, mobile Apps und Bewegtbilder, all das zeigt, dass wir uns von einem Bücherinternet hin zu einem Fernsehinternet bewegen.»
Das persönliche Fernsehen beginne, wenn man sich bei Facebook einlogge. Man braucht nur etwas zu scrollen, und schon sieht man Bilder von Freunden, Links zu lustigen Geschichten und Videos. Die Maus ist zur Fernbedienung für eine digitale Dauerwerbesendung geworden.
Mit Live-Videos wird das soziale Netzwerk dem Fernsehen noch ähnlicher. Nach Mark Zuckerbergs Losung könnte Facebook in Zukunft nicht nur eine perfekt personalisierte Zeitung werden, sondern auch ein individualisierter TV-Kanal.