Wer nicht arbeitet, soll nicht leben

Jeder fünfte Suizid weltweit ist einer wegen Arbeitslosigkeit – die tragische Konsequenz des Prinzips «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen».

Schwere Last: Viele Suizide haben mit Arbeitslosigkeit zu tun, in der Schweiz jeder siebte. (Symbolbild) (Bild: Keystone)

Jeder fünfte Suizid weltweit ist einer wegen Arbeitslosigkeit – die tragische Konsequenz des Prinzips «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen».

«Wir werden uns rechtzeitig entsorgen.» Jedes Mal, wenn der ältere Mann das sagte, zuckte ich zusammen. Auch und vor allem wegen des Wortes «entsorgen», das Menschen zu «Abfall» entwertet.

Inzwischen – vor allem auch, wenn ich die Altersheimrechnungen meiner Mutter sehe – geht es mir manchmal selber durch den Kopf: «Hoffentlich sterbe ich rechtzeitig.» Bevor das Ersparte, das meine Renten aufbessert, aufgebraucht wäre und ich um Altersbeihilfe oder Sozialhilfe betteln müsste.

Ich erschrecke ob meinen eigenen Todesfantasien, aus Angst, nicht mehr gebraucht zu werden, nicht mehr (rundum) für mich selbst sorgen zu können, andere, «den Steuerzahler» zu belasten. So sehr haben ökonomisierte Debatten um Überalterung, Überlastung der Sozialsysteme, Schmarotzer und Hängematten die individuelle, meine Psyche infiziert.

Jeder fünfte Suizid wegen Arbeitslosigkeit

Bei 175 Schweizern und Schweizerinnen pro Jahr werden Fantasien Realität – sie bringen sich in Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit um. Das ist, so SRF, ein Siebtel aller Suizide in der Schweiz. Weltweit, schreibt der «Tages-Anzeiger» am 12. Februar 2015, gilt sogar: «Jeder fünfte Mensch, der sich umbringt, tut dies, weil er keine Arbeit hat.»




(Bild: Screenshot – SRF)

Das hat eine neue Studie der Universität Zürich ergeben, bei der zwischen 2000 und 2011 die Zahlen von 63 Ländern berücksichtigt wurden.

Zahlen alter Menschen, die aus Angst, andere (ökonomisch) zu belasten, den «Freitod» wählen, sind in dieser Vergleichsstudie nicht erhoben worden. Projektleiter Carlos Nordt hält dazu in einem «Tages-Anzeiger»-Interview nur fest: «In der Schweiz ist der Suizid im Alter ein grosses Thema, in Südamerika überhaupt nicht. Ich vermute, dass auch hier kulturelle Gründe dahinterstecken. In einem Land, in dem Alterssuizid verbreitet ist, erscheint er normaler und wird darum vielleicht öfter begangen.»

«Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Suizidrate», so Carlos Nordt, ist «in allen untersuchten Weltregionen – Nord- und Südamerika, Nord- und Westeuropa, Süd- und Osteuropa sowie Nicht-Amerika und Nicht-Europa – etwa gleich stark.» Dass diese Verbindung in Ländern mit tiefen Arbeitslosenzahlen – wie der Schweiz – sogar etwas stärker ausgeprägt ist, erklärt er so: «Wenn die Zahl der Menschen ohne Job sich von drei auf sechs Prozent verdoppelt, wirkt das bedrohlicher, als wenn sie von 20 auf 23 Prozent ansteigt. Dies, obwohl die finanzielle Absicherung in Ländern wie der Schweiz viel grösser ist, Arbeitslose weniger zu befürchten haben. Dafür ist das soziale Stigma grösser, Arbeitslosigkeit wird stärker als Makel empfunden.»

«Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen» und das Recht auf Arbeit

In individualistischen Gesellschaften wird, wider jede Realität, die Fiktion aufrechterhalten, der oder die Erfolgreiche sei es aus eigener Tüchtigkeit, der oder die Erfolglose sei selber schuld. Wer in solchem Kontext erwerbslos wird, sieht sich häufig selbst als Versager bzw. als Versagerin. Das verinnerlichte soziale Prinzip «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen» mit seiner wechselvollen Geschichte – das offensichtlich nur bezahlte Arbeit als Arbeit anerkennt – treibt Individuen teilweise zu tödlichen Konsequenzen.

Die Verknüpfung von Erwerbsarbeit und Existenzrecht würde in industrialisierten und digitalisierten Kulturen – die immer weniger Menschen / Arbeitskräfte brauchen, um den (materiellen) Lebensstandard zu halten, ja, zu steigern – auf Dauer nur funktionieren, wenn einerseits die Menge an bereitgestellten (unnötigen) Gütern sowie Dienstleistungen endlos ausgeweitet und andererseits immer neue Absatzmärkte erschlossen werden könnten. Womöglich bald schon in anderen Galaxien. Mit den bekannten ökologischen Folgen.

Wo der Mensch nur als «gebrauchter» eine Existenzberechtigung hat, ist er – ob arbeitslos, alt, behindert – bedroht.

Dem «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen» müsste in Gesellschaften, die das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ernst nehmen, ein (staatlich garantiertes) Recht auf Arbeit und angemessene Entlohnung entgegengesetzt werden. Wie es in Artikel 6/7 der sozialen Menschenrechte vorgesehen ist, aber selbst in Ländern, die dieses Recht in der Verfassung festgeschrieben haben, bisher nie gesellschaftliche Wirklichkeit geworden ist.

Ob jemand Erwerbsarbeit erhält oder nicht, hängt in ökonomisch liberalisierten Gesellschaften vom Bedarf des «freien» Marktes nach Arbeitskräften, nicht von den Bedürfnissen der Individuen nach (existenzsichernder) Arbeit ab. Aber wo der Mensch nur als «gebrauchter» eine Existenzberechtigung hat, ist er – ob arbeitslos, alt, behindert – bedroht.

Soziale Buchhaltung ganz objektiv

1931 schrieb der deutsche Psychiater Hermann Simon, die Logik von Leistungsgesellschaften so fort:

«Der einzelne ist für die Gemeinschaft das wert, was er für sie leistet, und zwar über seinen eigenen unmittelbaren Unterhalt hinaus. Gleichgültig sind für die Gemeinschaft die Zahlreichen, die gerade noch für sich selbst sorgen, der Allgemeinheit aber keinen Nutzen bringen. ‹Ballast-Existenzen› sind die ‹Minderwertigen› aller Art, welche die Lasten ihres eigenen Daseins mehr oder weniger der Gemeinschaft überlassen, an den Rechten der Gemeinschaft aber teilnehmen. Die Ausdrücke ‹Ballast-Existenzen› und ‹Minderwertigkeit› dürfen in diesem Zusammenhang nicht mit einem moralisierenden Beiklang gebraucht werden, sie bezeichnen nur eine objektiv vorhandene sachliche Bewertung, gewissermassen im kaufmännischen Sinne als ‹Passivum› der Gemeinschaftsbilanz zu buchen, dem ein entsprechendes ‹Aktivum› nicht gegenübersteht… Unsere ganze soziale und gesetzgeberische Entwicklung fördert die Vermehrung des Schwachen und hemmt die Erstarkung des Starken… Der Staat will alles erhalten, kann aber die Bedingungen gar nicht schaffen, um alles zu erhalten: daher alles hoffnungslose Elend. Es wird wieder gestorben werden müssen. Es fragt sich nur, welche Millionen sterben müssen. Der Tod ist und bleibt auch eine Erlösung…»
(Klaus Dörner: Tödliches Mitleid, 1988 erstmals erschienen)

1945, nach dem grossen Morden – das auch die «Lösung» der «Judenfrage» und der «sozialen Frage» zum Ziel hatte – hielt der Sozialdarwinist Simon, der als «Begründer der modernen Arbeitstherapie» gilt und die NSDAP wegen «seiner kritischen Haltung gegenüber dem Hitlerregime» (Wikipedia) verliess, diese Aussage nicht mehr für «taktisch opportun», aber «sachlich auch heute noch zutreffend».

Der soziale Tod

Und sechzig Jahre danach? Einmal mehr werden Soll und Haben von Menschen aufgerechnet, schüren Sozialhilfe- und Sozialstaatsdebatten den Konflikt zwischen «produktiven» und «unproduktiven Teilen der Bevölkerung», zwischen «dem Steuerzahler» und den «Sozialschmarotzern». Aber natürlich propagiert in Kulturen, in denen allen geholfen wird, die es nötig haben, niemand den Tod als gesellschaftliche Lösung, sagt niemand laut: «Es wird wieder gestorben werden müssen.»

Das wird den betroffenen Individuen überlassen, die, auch in freiheitlich-demokratischen Staaten, gesellschaftlich dominante Normen und Stimmungen verinnerlichen. Den Menschen, die keinen Platz in der Erwerbswelt (mehr) finden oder aus ihr «freigesetzt» werden, die nicht (mehr) Gebrauchten und Überzähligen, die sich in diesem Klima selbst als sozioökonomische Belastung zu empfinden beginnen. Die einen von ihnen treiben mit ihrem persönlichen Handeln das allgemeine Arbeitsethos «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen» auf die tödliche Spitze: Wer nicht arbeitet, soll sterben.

Ist das die individuelle Eigeninitiative, die sie meinen, wenn sie die soziale Hängematte geisseln und die Entschlackung des Service Public verlangen?

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Dieser Artikel ist zuerst auf der Internet-Plattform infosperber.ch erschienen.

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