Wer weniger arbeitet, leistet mehr

Basler Staatsangestellte möchten weniger arbeiten. Auch die SP-Frauen bringen eine kürzere Arbeitszeit wieder aufs Tapet. Die Arbeitgeber sind dagegen. Dabei gibt es auch aus wirtschaftlicher Sicht gute Gründe für kürzere Arbeitstage.

Effizient wie nie: Evelin Abrahamsson schafft in sechs Stunden mehr als andere in acht. (Bild: Izabelle Nordfjell)

Um 7.30 Uhr steht Evelin Abrahamsson auf. Sie frühstückt mit ihrer Tochter, macht sich parat, bringt das Kind in die Kita und ist um neun Uhr im Büro. Um 16 Uhr radelt sie bereits wieder heim zu einem langen Feierabend mit ihrer Familie. «Letzte Woche gingen wir nach der Arbeit noch in den Wald pilzeln.»

Das liegt für die 29-Jährige drin, weil sie bei Brath arbeitet. Das schwedische Software-Unternehmen in Örnsköldsvik am Bottnischen Meerbusen hilft seiner Kundschaft, im Internet schneller gefunden zu werden. Bei Brath arbeiten alle Angstellten von neun bis 16 Uhr, mit einer Stunde Mittagspause. Das macht sechs Stunden pro Tag, bei vollem Lohn.

Um 16 Uhr macht Evelin Abrahamsson Feierabend. Zeit genug, um mit der Tochter pilzeln zu gehen.

Die Idee kommt von ganz oben. Firmenbesitzerin und CEO Maria Bråth sagt: «Wir machen das so, weil es gescheit ist.» Die Zahlen geben ihr recht: Brath ist ein kleines Unternehmen mit 20 Angestellten. Seit der Gründung im Jahr 2012 hat es seine Einnahmen jedes Jahr verdoppelt.

Einer der Gründe für den Erfolg: «Unsere Angestellten leisten in sechs Stunden mehr als andere in acht», sagt Bråth. Sie misst den Output ihrer Leute ganz genau. Schreiben Angestellte Artikel, zählt die Chefin, wie viele und wie gute Artikel sie produzieren.

Evelin Abrahamsson: «Der Feierabend ist so lang, dass ich Sorgen verarbeite, bevor ich ins Bett gehe.»

Ihre Angestellte Evelin schätzt es, mehr Zeit für ihre Tochter zu haben. Und sie hat mehr Energie und schläft besser. Früher habe sie im Bett jeweils Probleme aus dem Büro gewälzt. Heute schläft sie schneller ein. «Der Feierabend dauert so lang, dass ich Sorgen verarbeite, bevor ich ins Bett gehe.»

Kein Wunder, dass die Leute Maria Bråth die Bude einrennen. «Die Besten kommen von alleine zu uns», sagt die Chefin. Ohne, dass sie Stellen ausschreiben muss. Und die Leute bleiben: «Wer einmal mehr Zeit für die Familie hat, gibt sie nicht mehr so schnell auf.»

CEO Maria Bråth: «Wir haben einen 6-Stunden-Tag eingeführt, weil es gescheit ist.»

In Schweizer Ohren klingt das, je nach Optik, wie ein Wunsch – oder wie ein Albtraum. Hier kennt man es eher so: Um 6 Uhr aufstehen, duschen, das Kind füttern, in die Krippe hetzen und von dort ins Büro.

Am Abend mitten in der Arbeit wieder rausrennen, um es vor Feierabend in die Kita zum Kind zu schaffen. Dann husch, husch kochen, bevor das Kind vor Müdigkeit und Hunger einen Schreikrampf kriegt, füttern und ins Bett bringen. Danach: Compi wieder hochfahren und weiterarbeiten, bevor man spät abends ins Bett fällt, wo die Gedanken kreisen.

Stolze Schweizer Chrampfer

Die Schweizer arbeiten mehr als fast alle anderen Europäer. Im Jahr 2016 waren es im Schnitt 43 Stunden pro Woche, wie die Erhebungen von Eurostat, dem statistischen Amt der EU, zeigen. Nur die Griechen und Isländer arbeiteten im Schnitt gleich viel oder länger. Am wenigsten arbeiteten die Dänen mit durchschnittlich 38,7 Stunden.

Die Schweizer wären nicht gezwungen, so viel zu schuften. Sie wollen es so. Die Linke versucht immer wieder, die Arbeitszeit zu verkürzen, die Stimmbevölkerung verhindert es Mal um Mal. 2012 versenkte sie die Initiative für sechs Wochen Ferien des Arbeitnehmenden-Dachverbands Travail.Suisse. 2002 lehnte sie eine Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes zur Einführung der 36-Stunden-Woche ab.

Mehr dazu in unserer Chronologie:

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Die Schweizer sind stolz darauf, Chrampfer zu sein. Sie sind überzeugt: «Von nichts kommt nichts.» Wohlstand ist eine direkte Folge von harter Arbeit, glauben sie.

Ein Länder-Vergleich der OECD zeigt allerdings etwas anderes: Je kürzer die Arbeitszeit, desto höher die Produktivität. In Luxemburg oder Deutschland arbeiten die Menschen weniger als in der Schweiz, doch die Produktivität in diesen Ländern ist höher. In Griechenland dagegen arbeiten die Menschen sehr viel, doch die Produktivität ist tief.

Basler Staatsangestellte wollen 40-Stunden-Woche

Hierzulande stehen weitere Anläufe für eine Arbeitszeitverkürzung an. In Basel hoffen Staatsangestellte auf kürzere Wochen, ihr Wunsch ist verhältnismässig bescheiden: Eine 40- statt eine 42-Stunden-Woche. Die Arbeitnehmerverbände haben eine entsprechende Petition eingereicht.
Ihr Argument: Viele private Firmen hätten bereits eine 40-Stunden-Woche. Ausserdem habe das Staatspersonal mit der Erhöhung des Rentenalters, der Kürzung des Dienstaltersgeschenks und der höheren Beteiligung an der Nichtberufsunfallversicherung zum finanziellen Erfolg des Kantons beigetragen und verdiene dafür Wertschätzung.

Weiter geht eine schweizweite Forderung der SP-Frauen. Sie wollen eine 35-Stunden-Woche für alle.  Das Ziel: Mehr Zeit für die Kinder- oder Krankenbetreuung und eine ausgeglichenere Verteilung der Arbeit auf die Bevölkerung.

Ursprünglich wollten einige SP-Frauen die Arbeitszeit sogar auf 25 Stunden pro Woche runterfahren, wie es im «Manifest für eine feministische Sozialdemokratie» hiess. Doch das ging der Mehrheit zu weit. Den 35-Stunden-Kompromiss präsentieren sie nun im Oktober der SP-Delegiertenversammlung.

Der Arbeitsmediziner sagt: «Der Mensch ist nur etwa sechs Stunden pro Tag leistungsfähig. Danach wird er langsamer.»

Aus Sicht vieler Schweizer mag das radikal klingen, doch die Idee findet auch bei Schweizer Wissenschaftlern Anklang. Michael Graff ist Leiter Wirtschaftsprognosen an der Konjunkturforschungsstelle der ETH. Er sagt: «Aus makroökonomischer Sicht führt langfristig kein Weg an einer Arbeitszeitverkürzung vorbei.» Und zwar aufgrund der Digitalisierung und Automatisierung. Sie wird, so Graff, dazu führen, dass Firmen noch mehr in kurzer Zeit produzieren – Angestellte müssen weniger lang arbeiten für dasselbe Ergebnis.

Nun haben Firmen verschiedene Möglichkeiten: Sie können Stellen streichen oder die Arbeitszeit der Einzelnen reduzieren. Graff ist für die zweite Möglichkeit: «Die Arbeitszeitreduktion würde Vollbeschäftigung nicht trotz, sondern dank kürzerer Arbeitszeiten garantieren.»

Produktivität gut, alles gut. Brath in Örnsköldsvik weiss, wie es geht.

Gesund wäre das noch dazu. Thomas Läubli hat als Arbeitsmediziner der ETH die Gesundheitskosten hoher Arbeitsbelastungen für das Staatssekretariat für Wirtschaft erforscht. Er sagt: «Der Mensch ist nur etwa sechs Stunden pro Tag leistungsfähig. Danach wird er langsamer.»

Gemäss Läubli arbeitet heute kaum eine Krankenpflegerin mehr über 80 Prozent, dasselbe gilt für Lehrerinnen und Lehrer. «Menschen müssen sich erholen, je älter sie sind, desto mehr.» Tun sie es nicht, würden sie Fehler und Unfälle verursachen. Zu denselben Schlüssen kommt eine Studie der Universität Stanford.

Die Wirtschaft will längere Arbeitszeiten

Tatsächlich hat sich die Arbeitszeit in den letzten zwei Jahrhunderten halbiert. In nächster Zeit könnte der Trend aber rasant die Richtung ändern. Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände planen einen Grossangriff auf den Arbeitnehmerschutz. Bislang durften Angestellte in der Schweiz gemäss Arbeitsgesetz höchstens 45 Stunden pro Woche arbeiten.

Erste Lockerungen sind bereits in Kraft: Seit Januar 2016 dürfen Firmen für Angestellte mit einem Einkommen über 120’000 Franken die Zeiterfassung streichen.

Das gilt bislang allerdings nur für Branchen mit Gesamtarbeitsvertrag. Nun will die Wirtschaft und die bürgerliche Politik die Regelungen auf alle Branchen ausweiten. Die freisinnige Ständerätin Karin Keller-Sutter und ihr Ratskollege Konrad Graber (CVP) haben je eine parlamentarische Initiative eingereicht. Sie wollen die Wochenarbeitszeit erhöhen und die Ruhezeiten einschränken.

Die Wirtschaftskommission beider Parlamentskammern haben den Begehren bereits zugestimmt. Dazu kommen Bestrebungen, die Sonntagsarbeit zu liberalisieren.

«Fit für die heutige Dienstleistungsgesellschaft»

Der Kaufmännische Verband und der Verband Angestellte Schweiz unterstützten die Lockerungen, doch die Gewerkschaften sind überzeugt: Das führt zu «Arbeit bis zum Umfallen» – und erst noch gratis. Sie haben erbitterten Widerstand angekündigt.

Die Arbeitgeber dagegen betonen, das Ziel sei nicht, den Angestellten mehr Arbeit aufzubrummen. Es gehe nur darum, sie flexibler einteilen zu können. Das bedeutet Überstunden während der Hochsaison und kurze Tage in ruhigen Zeiten. So wollen sich etwa die Versicherungs- oder Treuhandbranche fit machen für die «heutige Dienstleistungsgesellschaft».

Vor diesem Hintergrund wird die 35-Stunden-Woche der SP-Frauen keine Chance haben. So fürchtet Daniella Lützelschwab vom Schweizerischen Arbeitgeberverband höhere Kosten für die Arbeitgeber: «Das würde die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen massiv schwächen und wäre schlicht nicht tragbar.»

Das Beispiel Frankreich

Auch die Arbeitgeber bekommen Schützenhilfe aus der Wissenschaft. Conny Wunsch, Professorin für Arbeitsökonomie an der Universität Basel, sagt: «Eine Reduktion der Wochenarbeitszeit erhöht die Kosten für Unternehmen und wirkt sich, wenn überhaupt, dann negativ auf die Beschäftigung aus.»

Wunsch argumentiert mit Beispielen aus dem Ausland, etwas aus Frankreich. Dort wurde 1982 unter Präsident François Mitterrand die Arbeitszeit von 40 auf 39 Stunden reduziert. Französische Forscher untersuchten die Auswirkungen und kamen zum Schluss: Dadurch gingen Jobs verloren, vor allem für Angestellte im Tieflohnsegment.

Im Jahr 2000 senkte Frankreich seine Arbeitszeit weiter, auf 35 Stunden. Von positiven Effekten hat man nichts gemerkt, im Gegenteil, seit der Wirtschaftskrise 2008 hat die Arbeitslosigkeit zugenommen. Wobei viele Franzosen die Arbeitszeit nicht einhielten, dafür sorgte Nicolas Sarkozy während seiner Amtszeit als Staatspräsident. Er führte die Regel ein, dass Überzeit steuerfrei ausgezahlt werden konnte.

Auch die zurzeit diskutierte Arbeitsmarktreform von Präsident Emmanuel Macron will die 35-Stunden-Woche aufweichen. Die Gewerkschaften haben, wie erwartet, Widerstand angekündigt.

Negative Effekte

Ähnliche Auseinandersetzungen kennt man in Deutschland. Bekannt sind vor allem die Kämpfe in der Metallindustrie. In Ostdeutschland kämpfte die Gewerkschaft vergebens für eine 35-Stunden-Woche, in der westdeutschen Metallindustrie dagegen wurde sie 1995 eingeführt. Allerdings stieg die Arbeitslosigkeit zeitweise trotzdem. Ähnliches zeigen Studien aus Portugal und Japan. Arbeitsökonomin Wunsch sagt deshalb: «Die erwünschte Wirkung von mehr Beschäftigten konnte bislang noch nirgendwo nachgewiesen werden.»

Dieses Argument lässt ETH-Ökonom Michael Graff nicht gelten. Der Grund: «In der Vergangenheit wurden Arbeitszeitverkürzungen in der Regel nicht kostenneutral umgesetzt.» Deshalb hätten «negative kurzfristige Effekte» dominiert.

Wenn man, wie sich das die SP-Frauen vorstellen, auf einen Schlag eine 35-Stunden-Woche durchsetzen würde, müssten die Arbeitgeber tatsächlich jedem Angestellten etwa 15 Prozent mehr Lohn pro Stunde zahlen.

Reduktion ohne Mehrkosten

Gemäss Graff wäre es jedoch durchaus möglich, die Arbeitszeit so zu reduzieren, dass keine Mehrkosten für die Unternehmen anfallen.
Der Trick liegt darin, die Arbeitszeit im Verhältnis zur Produktivitätssteigerung zu senken. Also nicht auf einen Schlag, sondern Schritt für Schritt.

Allein die Arbeitszeitverkürzung sollte zu einer Produktivitätssteigerung führen, wie das Beispiel des schwedischen Unternehmens Brath zeigt. Wer weniger arbeitet, leistet mehr. Hinzu kommt noch die Produktivitätssteigerung dank des technischen Fortschritts.

Diese hat in den letzten Jahrzehnten im Durchschnitt* jährlich um etwa ein Prozent zugenommen, mit deutlichen konjunkturellen Schwankungen. Wenn man jährlich die Arbeitszeit um dieses eine Prozent kürzt, produzieren die Firmen immer noch gleich viel. «So würde sich die Jahresarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich in weniger als 70 Jahren halbieren», sagt Graff. Diese Vision hatte der Ökonom John Maynard Keynes bereits in den 1930er-Jahren.

Irgendwann würden die Ferien so lang, dass man mit dem Schiff nach Amerika reisen könnte statt mit dem Flugzeug.

Würde man sie in die Realität umsetzen, wäre das auch gut für die Umwelt. «Es ermöglicht, den Wachstumszwang aufzuheben», sagt Graff. Denn wenn die Produktivität weiterhin steigt, müssen die Firmen immer mehr herstellen und die Leute mehr konsumieren, sonst haben die Angestellten irgendwann zu wenig Arbeit und verlieren ihren Job. Das wiederum benötige viele Rohstoffe und Energie und verschmutze Luft, Boden und Meere.

Evelin Abrahamsson hat gut lachen. Was für Schweizer ein Wunschtraum ist, ist für sie Realität.

Wenn jedoch die Arbeitszeit sinkt, müssten die Menschen nicht immer mehr produzieren, um die Jobs zu erhalten. Das würde die natürlichen Ressourcen schonen und den Menschen erst noch mehr Freizeit verschaffen. Irgendwann würden die Ferien so lang, dass man wieder mit dem Schiff nach Australien oder Amerika reisen könnte statt mit dem Flugzeug. «Das entschleunigt und spart CO2», sagt Graff.

Es ist eine Vision wie aus einem Märchen. Doch ohne Visionen kommen bahnbrechende gesellschaftliche Veränderungen nie zustande. Bis es so weit ist, hetzt Herr Schweizer nach der Arbeit in den Laden und kauft sich ein schnelles Essen, während Frau Schweizer in der Kita das Kind abholt. Nur Evelin Abrahamsson in Schweden, sie sucht längst mit ihrer Tochter im Wald nach Pilzen.

*Dieser Durchschnitt ergibt sich aus der Divison des Bruttoinlandprodukts durch die geleisteten Arbeitsstunden.

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