Wie aus «Jeannot» wieder der Künstler Tinguely wird

16 Jahre nach der Eröffnungsausstellung gehört das Museum Tinguely erstmals wieder ganz und gar dem Werk des Künstlers, dem das Haus gewidmet ist. Die Ausstellung «Tinguely@Tinguely» ist ein begrüssens- und überaus sehenswerter Versuch, Jean Tinguely von der Aura des Spasskünstlers zu befreien und seine Stellung als wichtiger Impulsgeber der Kunst des 20. Jahrhunderts zu festigen.

«Méta-Matic No. 6», 1959 (Bild: Christian Baur – © The Niki Charitable Art Foundation / 2012)

21 Jahre nach dem Tod des Künstlers und 16 Jahre nach der Eröffnung des Hauses eröffnet das Museum Tinguely mit einer grossen Überblicksausstellung «Tinguely@Tinguely» und einem neuen Sammlungskatalog einen neuen Blick auf das Werk des Künstlers, der einst als subversiver Avantgardist begann, sich aber in seinen späten Jahren als Schweizer Nationalkünstler und Gesellschaftsliebling vereinnahmen liess. 

Er schuf höchst fragile und reizvolle Drahtskulpturen und versetzte vom Prinzip her eigentlich starre abstrakte Kompositionen im Stile Malewitschs oder Kandinskys auf höchst reizvolle Art in sanft-kontemplative Bewegungen. Des weitern hinterfragte der junge Schweizer Künstler mit wild rotierenden Zeichen-Maschinen auf hintersinnige Art und Weise die Autorschaft der erhabenen Künstlerpersönlichkeit oder schuf als erster überhaupt grosse Skulpturen, die dem alleinigen Ziel dienten, sich in aufsehenerregenden Aktionen selber zu zerstören.

Mit diesen Werkgruppen und Aktionen erlangte Jean Tinguely in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren international den Ruf eines höchst eigensinnigen, ebenso originellen wie subversiven Erneuerers der (kinetischen) Kunst. In seinem Heimatland Schweiz indes wurde ihm erst spät die grosse Anerkennung zuteil, vor allem als Schöpfer der grossen und heute verbreitet als lustig-ansprechend empfundenen Schrott- und Brunnenskulpturen und der bunt-verspielten Briefzeichnungen.

Tinguely wird hierzulande und insbesondere in Basel noch immer als lokale Grösse und als Liebling der Gesellschaft empfunden. Als Basler erinnert man sich vielleicht an die erste Begegnung mit Tinguely in einer Ausstellung in der Galerie Handschin an der Bäumleingasse in den frühen 1970er-Jahren. Dann kam 1978 die legendäre Hammer-Ausstellung, die zum grossen gesellschaftlichen Ereignis wurde.

Und vielleicht begegnete man dem Künstler das eine oder andere mal an der Fasnacht, und aus Jean Tinguely, dessen Montreux-Jazzfestival-Plakat man in der Wohnung hängen hatte, wurde der «Jeannot», ein prominentes, aber überaus sympathisch-zugängliches Mitglied der Basler Gesellschaft, ein Mitfasnächtler zum Anfassen. Dieses persönlich gefärbte, beinahe kumpelhafte Verhältnis scheint bei vielen Baslern auch 21 Jahre nach dem Tod Tinguelys noch immer wach zu sein. Und es klang auch in den Vernissagereden zur Eröffnung der Ausstellung «Tinguel@Tinguely» durch: Gottlieb Keller, Geschäftsleitungsmitglied und damit Vertreter der Museumsträgerschaft Roche, offenbarte seinen «Stolz auf den lokalen Künstler», und der Basler Regierungspräsident Guy Morin sprach gar von «unserem Stadtkünstler».

Emanzipation vom «Stadtkünstler»

Dabei tritt nun das Museum Tinguely eben gerade dazu an, zwei Jahrzehnte nach dem Tod von «Jeannot» das Werk «wieder mehr in den Mittelpunkt» zu rücken, ihn von der letztlich abwertenden Aura des Lokalkünstlers zu befreien, damit er als «wichtiger Impulsgeber der internationalen Kunstszene um 1960 wieder entdeckt werden» kann. Mit der jetzt eröffneten grossen Überblicksausstellung bietet das Museum die besten Voraussetzungen für einen neuen Blick auf Jean Tinguelys Werk. Auf gut 3000 Quadratmetern eröffnet sich die Gelegenheit zu einer faszinierenden Reise durch den Kunstkosmos des Künstlers, der zwar durch das Prinzip der Kinetik zusammengehalten wird, ansonsten aber durch markante Entwicklungsschritte gekennzeichnet ist, die sich von Werkgruppe zu Werkgruppe zieht.

Natürlich sind sie nach wie vor sehr präsent, die grossen und so typischen Tinguely-Maschinen aus den späten Schaffensjahren: die riesenhafte, begehbare Maschine «Grosse Méta-Maxi-Maxi-Utopia» zum Beispiel und die nicht ganz so monströse Musikmaschine «Fatamorgana, Méta-Harmonie IV» aus der Mitte der 1980er-Jahre. Sie prägen zusammen mit den weiteren Schrottskulputuren der späteren Schaffensjahre das Bild des ausufernd-verspielten Meisters des künstlerischen Chaos. Der ebenso lehrreiche wie faszinierende Rundgang beginnt indes – nachdem man den neu eingereichteten Biografie-Parcours in der so genannten «Barca» durchschritten hat – auf der Galerie mit den frühen Méta-Werken: den schönen filigranen Méta-Malewitschs oder Méta-Kandinskys – abstrakte Kompositionen nach dem Vorbild der in den Titeln genannten grossen Künstler, die von Tinguely aber in stille, sanft-kontemplative Bewegung versetzt wurden.

Der Kunstpionier

Und weiter geht der Rundgang, zu den Méta-Matics, den hintersinnig-reizvollen Zeichenmaschinen aus der Mitte der 1950er-Jahren, zu den im Gesamtwerk wenig bekannten Radios aus den frühen 1960ern, zu den Kooperationen mit Yves Klein und all den anderen KünstlerInnen-Freunden, mit denen Tinguely zusammengearbeitet hatte, zu den wilden Balubas, den ersten, noch kleinen Schrottskulpturen, und der grossen Gruppe der schwarzen Skulpturen. Und natürlich zu den revolutionären Selbstzerstörungsaktionen «Hommage to New York» (1960) und «Study for an End of the World No. 2», mit denen Jean Tinguely der internationale Durchbruch gelang.

Auf vier Stockwerken offenbart sich ein Kunstkosmos, der sich in diesem Gesamtzusammenhang durch eine erstaunliche Vielfältigkeit auszeichnet. Den einen, klar fassbaren Tinguely gibt es nicht, es gibt den anarchistischen, den subversiven, den poetischen, pathetischen und den verspielten Künstler, der Pionierleistungen erbrachte, einst auch aneckte, aber damals wie heute Kinder zum Lachen bringen konnte.

Und es ist ein Künstler wieder zu entdecken, der mit dem «Mengele-Totentanz» 1986 ein packendes spätes Werk schuf, das, so wie es jetzt neu präsentiert wird, allein den Gang ins Museum wert ist. Die makabere vielteilige Installation mit Objekten, die Tinguely aus einem abgebrannten Bauernhof in Neyruz gerettet hat, ist jetzt in Basel erstmals in einem Rahmen zu sehen, in dem sie als zusammengehörendes Ganzes richtig zur Geltung kommen kann. So wurde für die Ausstellung «Tinguely@Tinguely» extra eine Art Totentanz-Kapelle geschaffen mit einem schwarzen Boden und einer schwarzen Decke, die den sakralen Charakter des Werkes, in dessen Zentrum ja der eindrückliche Hoch-Altar mit dem grossen Tierschädel steht, hervorgehoben wird. Es ist ein wahrhaft eindrückliches Erlebnis, der feierlich-düsteren Inszenierung mit den sich langsam bewegenden grossen Objekten, die ihre grossen Schatten an die Wände werfen, beizuwohnen. Hier ist nichts mehr übrig vom Spasskünstler, hier offenbart sich Tinguely als Künstler voller Ernst und einer ansteckenden Nachdenklichkeit.

Der neue Sammlungskatalog

Gleichzeitig mit der neuen Überblicksausstellung erscheint auch der neue Sammlungskatalog. Das 552 Seiten schwere Werk ist ein Must für alle Freunde von Tinguelys Kunst, es ist gleichzeitig ein unterhaltsames Buch über ein faszinierendes Künstlerleben und ein Standardwerk für die Forschung. Und mit einem Verkaufspreis von 58 Franken ist es zudem zu einem vergleichsweise günstigen Preis zu kaufen.

  • «Tinguely@Tinguely – ein neuer Blick auf Jean Tinguelys Werk», bis 30. September 2013 und begleitet von einem reichhaltigen Veranstaltungsprogramm  im Museum Tinguely

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