Tippspiele gelten als aufregende Ergänzung zum drögen Euro-Trott. Auch ich dachte das. Dann machte das redaktionsinterne Tippspiel mich zu einem schlechten Menschen.
Neulich bei Island. Als die Franzosen deren und offenbar unser aller Euro-Märchen beendeten, musste ich weinen. Nach dem fünften Tor der Franzosen sackte ich in meiner Couch zusammen, und dicke Tränen kullerten mir über die saftroten Wangen. Das Gefühl, das mich überwältigte, ist schwer in Worte zu fassen. Vielleicht lässt es sich am ehesten mit dem vergleichen, was ich verspürte, als ich Vater wurde: eine Mischung aus Erleichterung und Triumph.
Schon das tagelange Grundrauschen ging mir gehörig auf den Bims. Der isländische Kommentator, der ausflippt und aus dem bizarre Laute herausschiessen wie Asche aus einem Vulkan, von denen es auf Island übrigens unglaublich viele gibt, mehr als Profifussballer! «Hast du diesen Reporter gesehen? Hä? Huh?» Ich hab ihn gesehen, wie konnte ich auch nicht. Wir haben ihn alle gesehen. Immer und immer wieder. «Der ist nur noch Kult, finde ich.»
Ich finde: Dem Mann fehlt es an professioneller Distanz. Das ist kein Journalist, das ist eine Fanmakrele.
Oder: «Wusstest du, dass die Isländer so Plätze haben, die sie schützen, weil dort Trolle und Elfen wohnen? Dass die einen Punk als Bürgermeister haben?» Plötzlich ist jeder ein intimer Kenner der Schrulligkeiten dieses supersympathischen Vulkanhäufchens. Plötzlich ist jeder ein Islandtroll.
Oder, und das ist wirklich das Schlimmste an dieser totgetretenen Island-Saga: All die Menschen auf Twitter, die hinter alles, was sie da texten, die Endung -son anfügen. Weil die ja alle so lustig heissen, mit -son am Schluss. Sigthorsson? Ich werf mich weg.
Werte Freunde des Kalauers: Es war ein, zwei Mal originell. Richtig lustig war es nie. Wurde es auch nicht, als ihr es immer und immer wiederholt habt.
Sigthorsson mit dem Anschlusstrefferson! 4:1 (55.)! #FRAISL
— SPIEGEL ONLINE (@SPIEGELONLINE) 3. Juli 2016
Ich wollte, dass Island gegen Frankreich verliert, und zwar krachend. Für jedes «Huh», mit dem mich in den letzten Tagen ein Bekannter begrüsst hat, wünschte ich mir ein Gegentor.
Vor allem deswegen, weil mich die fünf Gegentore davor bewahrt haben, dass mein ärgster Konkurrent im redaktionsinternen Tippspiel zehn Bonuspunkte einfahren kann. Er tippte auf Ungarn, das die meisten Gegentore kassieren würde. Dieses Schicksal widerfährt nun wahrscheinlich Island.
Ich habe die Beckerfaust geballt, als Deutschland gewann – und mich noch nicht mal geschämt dafür.
Das EM-Tippspiel hat mein Fussballvergnügen zerstört. Ich schlage mich auf die Seite von Favoriten, verfluche den sympathischen Aussenseiter. Ich bin tief gefallen, habe mitunter gar auf Deutschland getippt. Habe die Beckerfaust geballt, als Deutschland gewann. Hab mich noch nicht mal geschämt dafür.
Moralisch bin ich ganz unten angekommen. Ich jubelte mit den ungarischen Faschisten in einem Vorrundenspiel (richtiges Resultat: 5 Punkte). Das Ausscheiden der Schweiz im Achtelfinal versetzte mich an einem Public Viewing in skeptisch rezipierte Ekstase (10 Bonuspunkte). Sollte die aufgeplusterte Grande Nation Europameister werden, werde ich mir das Konterfei von François Hollande aufs Gesäss tätowieren (10 Bonuspunkte).
Drei Mal noch Niedertracht
Am Mittwoch spielt meine liebste Mannschaft, das notorisch scheiternde Portugal gegen Wales. Sollten die Portugiesen ausscheiden, hätte ich womöglich einen kalkulatorischen Vorteil in der Endabrechnung. Portugal den Untergang wünschen? Nicht mal mehr das kann ich ausschliessen.
Drei Spiele sind es noch bis Ultimo. Drei Mal noch Niedertracht. Dann vielleicht der grosse Lohn, die Meisterschaft im redaktionsinternen Tippspiel. Und irgendwann viel später die Frage meines Sohnes, auf die ich keine Antwort haben werde: «Warum warst du damals gegen Island?»
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«Auch das noch»: Die TagesWoche-Rubrik fürs Schöne, Schräge und Fiese. Immer mit einem 😉 zu verstehen.