Die jüngste Generation ist die erste, die mehrheitlich ohne religiöse Erziehung aufwächst. Wird sie auch freier sein?
Meine Grosstante wollte bei ihren seltenen Ausflügen, die sie aus dem Toggenburg hinausführten, an jeder Station zuerst die katholische Kirche sehen. Fehlte die Kirche, verliess sie das Dorf.
Wir besuchten sie einmal im Toggenburg. Ich erinnere mich an eine gebeugte, verhutzelte Frau in einem dunklen Kleid. In den Händen hatte sie einen Rosenkranz, an den Wänden hingen Heiligenbilder. Als ich ihr vorgestellt wurde, strich sie mir über den Kopf und murmelte: «Herrgott segne dich.» Es war das Einzige, was sie je zu mir sagte.
Die Begegnung mit meiner Grosstante war ein spiritueller Ausschlag nach oben. Meine restliche katholische Kindheit und Jugend verliefen in Sachen Religiosität eher durchschnittlich. Wir gingen an den Sonntagen häufiger zur Kirche als nicht. Erstkommunion im weissen Gewand, Rahmschnitzel und Nüdeli, Pilgerfahrten mit dem Firmunterricht nach Assisi und zu Bruder Klaus, endlich die Firmung selber, Rahmschnitzel und Nüdeli und Kuverts voller Geld.
Die Religion war ein fixer Bestandteil des Lebens, aber kein prägender. Nur vage kann ich mich an das Raunen der Verwandten erinnern, als ein Grosskind reformiert statt katholisch getauft wurde.
Heute, als Erwachsener, bin ich so weit von der Kirche entfernt, wie es nur möglich ist. Zu selbstsicher waren mir die Pfarrer schon in meiner Jugendzeit, ihre Predigten liessen keinen Raum für Zweifel. Die Institution Kirche mit ihrem Papst und ihrer blutigen Geschichte: Schon als Jugendlicher war das untragbar.Dennoch bin ich nicht ausgetreten, noch immer zahle ich brav die Steuern und weiss nicht warum.
So wie ich vieles nicht weiss. Was hat die katholische Erziehung mit mir gemacht? Was schulde ich der katholischen Kirche, was schulde ich diesem Teil meines Lebens? Und dann natürlich die Gott-Sache. Als rationaler Mensch weiss ich. Als von der Kirche geprägter Mensch weiss ich nicht so recht.
Eine neue Generation ohne Gott
Innerlich gehöre ich, trotz nomineller Mitgliedschaft, zu jenem grössten Teil der Gesellschaft, der säkular lebt und für den Religion im Alltag keine Rolle mehr spielt. In Basel sind 44,8 Prozent der Bevölkerung «ohne Zugehörigkeit», die meisten sind ausgetreten. Leben wir in einer Gesellschaft der Gottlosen? Der Gottfremden?
Vor einer Woche widersprach die Religionswissenschaftlerin Lilo Roost im TagesWoche-Interview: «Es kann nicht die Rede davon sein, dass die Leute nicht mehr glauben. Unsere These ist die, dass mindestens die Hälfte der Ausgetretenen sich nach wie vor als Christen und Christinnen verstehen.»
Nun gut. Was immer das heissen mag. Der springende Punkt ist: Die nun heranwachsende Generation wird die erste sein, die mehrheitlich ohne religiöse Erziehung und Bildung aufwächst. Mit Eltern, die sich bewusst von der Institution Kirche entfernt haben. Schon heute muss man sich erklären, wenn man sein Kind taufen lassen möchte. Vor 20 Jahren war es noch umgekehrt. Unsere Kinder leben in völliger Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben. Sie leben in einer Welt, in der man am Sonntag brunchen geht und nicht zur Kirche.
Was antworte ich meinem Sohn, wenn er mich nach Gott und Himmel und Hölle fragt?
Was bedeutet diese Religionsferne für die heranwachsende Generation? Wird ihr etwas fehlen? Wird sie tatsächlich freier sein? Oder ganz einfach gefragt: Was antworte ich meinem Sohn, wenn er irgendwann einmal nicht mehr das Geräusch eines Elefanten von mir hören möchte, sondern mich nach Gott und Himmel und Hölle fragt?
Mir fehlen die Gewissheiten und fixen Rituale unserer Eltern; auch wenn ich sie nicht wiederholen möchte. Wir leben nicht nur in einer freien Zeit. Wir leben auch in einer Zeit des vagen Mittelmasses.
Wie viel einfacher müssen es die Freikirchler haben! Dort, in der hartnäckig religiösen Ecke der Gesellschaft, herrscht reger Zulauf. Und eine klare Ordnung. Wie immer, wenn es der Masse an Orientierung fehlt, retten sich viele Menschen in die Obhut der strengen Hand, der letzten Instanz.
Die Probleme, sie bleiben aber die gleichen. Nehmen wir Thomi Jourdan, den ehemaligen Regierungsratskandidaten und aktiven Gläubigen. Er ist ein Reformierter ohne Berührungsängste mit Freikirchen, ein vierfacher Vater, der vor jedem Essen betet, er ist Teil einer Worship-Band und geht zweimal pro Woche in ein Gebetshaus.
Sein Glaube sei Teil seines Lebens, seine Wertgrundlage, sagte Jourdan kurz vor dem Wahltag in der «Basler Zeitung», «nicht mehr und nicht weniger. So wie jeder Mensch sein Denken und Handeln auf Wertvorstellungen begründet.» Diese Wertgrundlage möchte er auch seinen Kindern weitergeben, indem er ihnen Lebensprinzipien vorlebt: Selbstverantwortung, Eigenständigkeit, Wertschätzung, Nächstenliebe, Ehrlichkeit. «Ich bin mir aber bewusst, dass das Christentum auf diese Werte kein Monopol hat», sagt Jourdan der TagesWoche.
Kein Monopol auf ethische Werte
Ein Monopol nicht. Aber ein gewisses Vorrecht. «Meine Eltern liessen mich suchen und finden. Diese Selbstverantwortung möchte ich meinen Kindern auch geben», sagt Jourdan. Er werde sich davor hüten, die Kinder zu indoktrinieren, radikal eine Richtung vorzugeben. Sie sollen selbst ihren eigenen Weg finden. Selbstverständlich würde es ihn aber freuen, wenn seine Kinder irgendwann zu ihm sagen würden: «Papi, der Glaube, den du lebst, überzeugt mich. Es ist auch mein Glaube.»
Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel von Clara, die hier nicht unter ihrem richtigen Namen zitiert werden will, einer ehemaligen Schulfreundin. Sie wuchs in einer sehr gläubigen Familie auf, Gebet und Geschichten aus der Bibel waren Teil des Alltags. Die Familie hatte strenge Regeln und auch einen Begriff von Sünde. Sex vor der Heirat: undenkbar.
Clara wurde schwanger: unverheiratet. Es war kein vorsätzlicher Verstoss gegen die elterlichen und eigentlich göttlichen Regeln; es war mehr eine Anpassung des Glaubenskonzepts an die eigene Lebensrealität.
Clara ist immer noch gläubig und gibt ihren Glauben auch an ihre Kinder weiter. Sie geht regelmässig zu den Messen in die Vineyard-Kirche, aber nicht jeden Sonntag. «Zu Beginn wurden mein Mann und ich komisch angesehen, wenn wir mal fehlten. Aber das hat sich gelegt. Wir leben unsere Beziehung zu Gott nicht für die anderen. Wir leben sie für uns.»
Und für ihre Kinder. Die Beziehung zu Gott spiele in ihrer Erziehung eine wichtige Rolle, aber keine so dominante mehr wie in ihrer Kindheit. Auch den missionarischen Zug hat Clara verloren. «Du musst dein eigenes Ding mit Gott finden. Das gebe ich meinen Kindern weiter.»
Bei Clara war die Grundlage für die erfolgreiche Transformation des Glaubens von einer Generation zur nächsten der bedingungslose Glaube an den einen Gott. Und das ist genau das Problem der fast 45 Prozent in unserer Gesellschaft, die sich «nicht zugehörig» fühlen. Sie glauben vielleicht an irgendetwas, aber es fehlt ihnen die Überzeugung.
Der Weg der Atheisten
Die Überzeugung der Frommen ist auch auf der gegenüberliegenden Seite zu finden: bei den Atheisten, dem bewussten Widerstand gegen die Institution Kirche, ihrem Fantasieprodukt namens Gott und ihren moralischen Regeln, die sie selber nicht einzuhalten vermögen. Obwohl wir in einer durch und durch säkularisierten Welt leben, sind die aktiven Atheisten ebenfalls eine Minderheit. Sie leben ihren Nichtglauben so bewusst wie die Frommen ihren Glauben.
Nehmen wir Maria, eine ehemalige Arbeitskollegin. Sie stammt aus einem erzkatholischen Elternhaus in der Innerschweiz und verzweifelte schon als Kind an der Widersprüchlichkeit der Glaubensvermittler: «Die moralischen Werte, die sie predigen, werden ja so oft von ihnen selber nicht eingehalten. Oder entsprechen nicht den eigenen Werten. Die Unterdrückung der Frauen, Frauen als Menschen zweiter Klasse oder die Sexualität – was für Christen wie für Moslems gilt: Das ist doch für viele der Grund gewesen, sich von der Religion abzuwenden.»
Widerstand von innen
Als Maria ihrer Tochter im Kindergarten erklären musste, warum sie «nichts» seien, weder katholisch noch reformiert, da versuchte sie ihr zu erklären, warum sie mit so vielem nicht einverstanden sei, was die Kirche predige. Dass das Blütteln beispielsweise eine Sünde sei. «Die Kleine riss entsetzt die Augen auf und sagte: ‹Ui nein, aber Jesus zieht sich doch sicher auch aus, wenn er schwitzt!›»
Maria ist «nicht zugehörig», aber sie ist beileibe nicht orientierungslos. Sie sagt: «Ich und viele andere sind vielleicht moralischer als manche Gläubige.»
Eine solche Überzeugung muss nicht unbedingt in totale Ablehnung der Institution münden. Sie kann auch Widerstand von innen bedeuten, die Rettung von gewissen Werten in unsere materielle Gesellschaft. Die Politologin Regula Stämpfli zum Beispiel sagte in einer Radiosendung kürzlich, dass sie ihre Kinder absichtlich in den Religions- und nicht in den Ethikunterricht schicken würde. «Man kann nur kritisieren, was man auch kennt», sagte Stämpfli, und in einem hingeworfenen Nebensatz ergänzte sie: «Das Einzige, was ich meinen Kindern mitgeben möchte, ist Liebe.»
Wie kann mein Sohn Antworten von jemandem erwarten, der auch nur Fragen hat?
Auf Nachfrage konkretisiert die Politologin: «Meinen Kindern habe ich den Sinn für das Grössere vermittelt, indem wir griechische Mythen, die Sagen anderer Länder und auch Bibelgeschichten erzählt, diskutiert, transformiert haben. Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass die meisten Menschen meinen, Kinder seien Gefässe, die einfach nur abgefüllt werden müssen. Das ist ein völlig verqueres Menschenbild.» Sie habe sich nie überlegt, welche Werte sie ihren Kindern vermitteln möchte oder welche Wahrheiten. «Ich habe sie einfach vorgelebt und den Kindern immer die Freiheit gegeben, ihren eigenen Standpunkt und ihre eigenen Fragen zu entwickeln.»
Dabei sträubt sich Stämpfli nicht per se gegen die Inhalte der Kirche. Aus atheistischer Sicht sei der Abschied von den fundamentalistischen Kirchen ein Fortschritt. «Aus menschlich-philosophischer Sicht ginge es darum, einige Werte, welche in der Kirche wenigstens rhetorisch beschworen werden, auch in unserer materialistischen Gesellschaft zu bewahren.»
Religion als Selbstbedienungsladen
Dieser letzte Punkt führt uns geradewegs zum letzten Ausweg. Zur Philosophie, in ihrer simpelsten und populärsten Form. Also zu einem Bestseller-Autor wie Alain de Botton. Der Sohn eines Schweizer Bankiers hat diesen Frühling ein Buch mit dem Titel «Religion for Atheists» herausgegeben (bisher nur auf Englisch). Ein Bestseller und Aufreger: Atheisten werfen ihm vor, Religion auf eine subversive Art wieder salonfähig machen zu wollen. Fromme beklagen die Selbstbedienungsmentalität, mit der de Botton durch die Weltreligionen marodiert und sich genau das herauspickt, was seinen Zwecken dient.
De Botton macht in seinem Buch beides: Er will Atheisten und Religion miteinander versöhnen. Die säkulare Welt habe viel zu grosse Berührungsängste mit allem, was auch nur im Entferntesten an Glauben, Religion oder gar Institution erinnere. Und das sei falsch. Es gebe viele religiöse Konzepte, die die säkulare Gesellschaft befruchten würden.
Das Konzept der Gemeinschaft etwa, der Vergebung, der Freundschaft, der Moral. Es sei eine Schande, dass die Kirche all diese im Grunde wunderbaren Rituale für sich alleine haben möchte. Bei Weihnachten, da habe es schon im Sinne der Atheisten geklappt: «Vieles von dem, was das Beste an Weihnachten ist, hat nichts mehr mit der Geburt von Christus zu tun.»
Schlau, anregend – aber sehr utopisch
Einen der tröstendsten Sätze schreibt der Philosoph ganz zu Beginn seines Buches: «Obwohl es anregend sein kann, über die Existenz von Gott zu streiten, ist das nicht der Kern des Problems. Es geht vielmehr darum, was jemand tun soll, wenn er entschieden hat, dass Gott offensichtlich nicht existiert.» Von da aus geht de Botton weiter. Er schlägt Restaurants vor, in denen man sich mit Fremden über existenzielle Fragen unterhalten kann. Allgemeine Tage der Vergebung, das Konzept der Gelassenheit in der Gegenwart des unendlichen Alls und so weiter und so fort.
Das ist alles sehr anregend und schlau. Aber auch sehr utopisch. Die Weisheit des Glaubens gehöre uns allen, schreibt de Botton zum Schluss, «die Religionen sind zu nützlich, zu effizient und zu intelligent, um sie den Religiösen alleine zu überlassen.» Ein monströser Satz, der eine einfache Frage offen lässt: Wie soll das denn gehen, bitteschön?
Nach unserer religiösen Spurensuche haben wir also:
Die Freikirchler mit ihren Gewissheiten.
Die Atheisten mit ihrem aktiven Widerstand.
Den Denker, der sich aus den Religionen bedient.
Und die grosse Masse der Orientierungslosen, die genau so schlau ist wie zuvor.
Wie soll man einem Kind etwas weitergeben, das man für sich selber nicht genau formuliert hat, nicht genau formulieren kann? Wie kann mein Sohn Antworten von jemandem erwarten, der auch nur Fragen hat? Und das betrifft ja beileibe nicht nur die Religion. Mein Gott!
Noch bleibt glücklicherweise etwas Zeit. Die Elefantengeräusche, die kann ich wirklich gut.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.08.13