1986 publizierte der Soziologe Ulrich Beck seine Theorie der «Risikogesellschaft». Was der Begriff bedeutet, zeigten Tschernobyl und Schweizerhalle in der Praxis.
Es gibt Bücher, die erscheinen zur richtigen Zeit mit dem richtigen Titel. Ulrich Becks «Risikogesellschaft» ist ein solches Buch.
Den Zeitpunkt seiner Veröffentlichung könnte man – wäre das nicht zynisch – optimal nennen, kam Becks Buch doch nur wenige Wochen nach dem atomaren Super-GAU in Tschernobyl vom 26. April 1986 auf den Markt. Und den passenden Titel trug das Buch, weil er etwas benannte, das in jenen Tagen vielen Menschen zu dämmern begann: Wir sind alle Teil einer Gesellschaft, die infolge der Grosstechnologien mit enormen Risiken behaftet ist.
Mit der atomaren Katastrophe von Tschernobyl offenbarte sich eine neue Dimension dieser Risikogesellschaft: Da flog in der fernen Sowjetunion ein AKW in die Luft und in türkischen Haselnüssen, in den Fischen im Lago Maggiore und in der Schweizer Kuhmilch stiegen die Strahlenwerte.
Risiken und damit Unglücksfälle und Katastrophen hatten auch schon frühere Gesellschaften gekannt. Doch diese Katastrophen hatten sich jeweils in Grenzen gehalten, sei es, dass sie örtlich beschränkt waren oder vor sozialen Schranken halt machten. Das war nun anders: Landesgrenzen konnten die Atomwolken nicht stoppen.
Bruch innerhalb der Moderne
Für den Soziologen Ulrich Beck war «Tschernobyl» die Spitze des Risiken-Eisbergs, auf den der Tanker «Moderne» zusteuerte. Diese Ballung gesellschaftlich produzierter Risiken bedeutete für Beck «das Ende des 19. Jahrhunderts, das Ende der klassischen Industriegesellschaft mit ihren Vorstellungen von nationalstaatlicher Souveränität, Fortschrittsautomatik, Klassen, Leistungsprinzip, Natur, Wirklichkeit, wissenschaftlicher Erkenntnis usw.»
Dem lag die Einschätzung zugrunde, «dass wir Augenzeugen – Subjekt und Objekt – eines Bruches innerhalb der Moderne sind, die sich aus den Konturen der klassischen Industriegesellschaft herauslöst und eine neue Gestalt – die hier so genannte (industrielle) ‹Risikogesellschaft› – ausprägt».
Beck hatte nicht den Anspruch, mit seinem Buch repräsentative, nach den Regeln der empirischen Sozialforschung erhobene Daten vorzulegen. Er verfolgte ein anderes Ziel: Es ging ihm darum, «gegen die noch vorherrschende Vergangenheit die sich schon abzeichnende Zukunft ins Blickfeld zu heben».
Dabei richtete Beck unseren Blick nicht zuletzt auch auf die Gegenwart, etwa wenn er schrieb:
«Mit der Anerkennung von Modernisierungsrisiken bildet sich so unter dem Druck wachsender Gefahren ein eigentümlicher politischer Zündstoff. Dem, was gestern noch möglich war, sind heute plötzlich Grenzen gesetzt. (…) Was eben noch jenseits der politischen Zugriffsmöglichkeiten lag, gerät in den Einflussradius der Politik.»
Nach «Tschernobyl» war vor «Schweizerhalle»
Was Letzteres konkret bedeuten konnte, sollte sich nur wenige Monate nach Erscheinen von Becks Buch in den Tagen nach dem 1. November 1986 in der Region Basel zeigen.
Die Brandnacht von Schweizerhalle rüttelte Tausende auf und setzte sie in Bewegung. Es kam zu eindrücklichen Demonstrationen und in Gestalt der «Aktion Selbstschutz» zur Gründung einer beachtlichen Bürger/innen-Initiative, die während mehrerer Jahre aktiv war und verschiedene Vorhaben der chemischen Industrie genau unter die Lupe nahm. Es war dies auch die Geburtsstunde der Grün-Alternativen Partei, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Basler Grünen spielte.
Unter dem Druck der wachsenden Empörung sah sich die Konzernleitung der Sandoz genötigt, den Dialog mit der Öffentlichkeit zu suchen. Und schliesslich regten sich auch die etablierten Parteien und einigten sich darauf, ein Chemie-Inspektorat zu schaffen. Aus diesem Vorhaben entstand schliesslich die heutige Kontrollstelle für Chemie- und Biosicherheit beim Kantonalen Laboratorium.
In den 30 Jahren, die seit der Brandnacht vergangen sind, hat sich die chemische Industrie in unserer Region stark gewandelt und sich vor allem auf Pharmaforschung und Biotechnologien konzentriert. Welche Risiken damit verbunden sind, kann ein Aussenstehender nur schwer abschätzen.
Auch das ist ein beunruhigender Aspekt der «Risikogesellschaft»: Dass wir Laien ohne entsprechende Kenntnisse gar nicht in der Lage sind, ein Risiko richtig einzuschätzen und entsprechende Massnahmen zu fordern, bevor es zur Katastrophe kommt.
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Ulrich Beck: «Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne», Edition Suhrkamp.