«Wir stehen an einer kritischen Schwelle»

Die Landwirtschaft müsse dringender als je zuvor vom Problem zur Lösung werden, sagt der Schweizer Entwicklungsexperte Hans Rudolf Herren. Das könne nur eine agrarökologische Landwirtschaft leisten.

«Das Problem ist, dass Syngenta Pestizide nicht als Problem, sondern als Lösung betrachtet»: Hans Rudolf Herren (Bild: PETER LUETHI / HANDOUT)

Die Landwirtschaft müsse dringender als je zuvor vom Problem zur Lösung werden, sagt der Schweizer Entwicklungsexperte Hans Rudolf Herren. Das könne nur eine agrarökologische Landwirtschaft leisten.

Herr Herren, vor sechs Jahren wurde der Weltagrarbericht, den Sie mit Judy Wakhungu präsidierten, in Johannesburg verabschiedet. Auch die Schweiz hat ihn unterzeichnet. Was hat sich seither getan?

Irgendwie tat sich recht viel, aber nur sehr langsam. Es war vor allem die Zivilgesellschaft, die immer und immer wieder Druck ausübte, das führte mit den Jahren langsam zu Erfolgen.

Inzwischen haben auch UNO-Gremien wie das Umweltprogramm der Vereinten Nationen und die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung die Forderungen des Weltagrarberichts aufgenommen.

Stimmt. Und vor ein paar Wochen hat auch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) den Mut gehabt, ein zweitägiges Symposium zur Agrarökologie zu veranstalten. Einige Regierungen haben dagegen geredet, doch vor allem die französische Regierung hat sich sehr dafür eingesetzt und das Symposium auch teilweise finanziert.

Hans Rudolf Herren

Der Insektenforscher Hans Rudolf Herren ist ein Pionier der biologischen Schädlingsbekämpfung in Afrika und erhielt dafür 1995 den World Food Prize. Der gebürtige Walliser leitete von 1994 bis 2005 das Internationale Insektenforschungs-Institut ICIPE in Kenia. Seither ist er Präsident des Entwicklungs-Thinktanks Millennium Institute in Washington D.C. und der Schweizer Stiftung Biovision. Mit Judy Wakhungu war er Ko-Präsident des Weltagrarberichts. 2013 erhielt er den Alternativen Nobelpreis.

Welche Botschaft des Weltagrarberichts ist Ihrer Meinung nach am meisten ins Bewusstsein vorgedrungen?

«Weiter wie bisher ist keine Option» – das ist zum geflügelten Wort geworden. Dass es einen Wechsel braucht, da sind sich alle einig. Aber wie die Landwirtschaft von morgen aussehen soll, darüber gehen die Ansichten noch immer weit auseinander. Die einen reden von «nachhaltiger Intensivierung», die anderen von «Climate Smart Agriculture» – und meinen damit eine industrielle Produktionssteigerung, etwas sauberer und etwas ressourcenschonender. Wieder andere reden von einer «agrarökologischen Wende», die eben viel mehr beinhaltet. Im Weltagrarbericht ist die Agrarökologie ein Schlüsselbegriff. Er fordert einen radikalen Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft.

Und was sagen Forscher zum Weltagrarbericht und zur Agrarökologie?

Langsam ist der Bericht in den Wissenschaften bekannt und wird auch an Universitäten in der Lehre eingesetzt. So kann man heute etwa an skandinavischen Unis Agrarökologie studieren. Sogar an der ETH-Zürich gibt es einen Lehrstuhl für Agrarökologie, finanziert von der Mercator- und der Syngenta-Stiftung. Weltweit ist auch die biologische Pflanzen- und Tierzucht auf dem Vormarsch. Es gibt aber natürlich noch viele Vorbehalte. Etwa von Wissenschaftlern, die die agrarindustriellen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte nicht schlechtmachen wollen.

Syngenta und Monsanto beziehen sich gerne auf den Begriff der «nachhaltigen Intensivierung».

Ja, diesen Begriff hatten wir Agrarökologen nie gerne. «Nachhaltig» – das ist derart vage, das kann alles heissen. Und «Intensivierung» ist gefährlich, weil man nicht sagt, wie das funktionieren soll. Meistens geht es wieder nur um mehr Produktion – also in die falsche Richtung. Intensivierung müsste heissen: bessere Bodenfruchtbarkeit, besserer Wasserhaushalt, eine grössere Diversität.

Syngenta hat letztes Jahr ihren «Good Growth Plan» vorgestellt mit Ideen zum «verantwortungsvollen Wachstum». Was halten Sie davon?

Gewisse Dinge, die ich darin lese, könnten direkt aus dem Weltagrarbericht abgeschrieben worden sein. Aber das Verständnis dieser Begriffe ist ein ganz anderes. Was für uns «nachhaltig» ist, bedeutet für die Industrie etwas ganz anderes.

Aber kann man nicht sagen, dass es wenigstens ein kleiner Schritt in die richtige Richtung ist? Wenigstens kommen Begriffe wie «Biodiversität» im Vokabular vor.

Das Problem ist, dass Syngenta Pestizide nicht als Problem, sondern als Lösung betrachtet. Statt dass das System reorganisiert wird, werden einfach andere Produkte oder Technologien eingesetzt. Das Problem ist auch, dass die Industrie Symptome anpacken will und nicht deren Ursache. Da besteht ein philosophischer Graben, der nicht zu füllen ist.

Der Weltagrarbericht fordert einen umfassenden Paradigmenwechsel. Glauben Sie, die Einsicht in dessen Notwendigkeit ist nun bei der FAO wirklich angekommen? Oder ist es noch ein vorsichtiges Lavieren rund um die «nachhaltige Intensivierung»?

Ich glaube, das Konzept der «nachhaltigen Intensivierung» wird auch in der FAO nicht mehr als so toll empfunden. Jetzt reden viele davon, dass man sich auf die Agrarökologie konzentrieren sollte. Generell kann man sagen, dass wir langsam zu einem Durchbruch kommen. Und ich glaube, dass sich die Industrie von der Bewegung für Agrarökologie bedrängt fühlt. Sie verhält sich sehr defensiv und wird langsam auch aggressiv. Darum müssen wir jetzt noch besser zusammenhalten. Es gibt zu viele Splittergruppen. Der Weltagrarbericht zeigt, wo wir vorangehen können und müssen. Wir stehen an einer kritischen Schwelle – nicht zuletzt, weil sich der Klimawandel verstärkt. Die Landwirtschaft muss dringender als je zuvor vom Problem zur Lösung werden. Und das kann nur eine agrarökologische und gerechte Landwirtschaft leisten.


Lesen Sie auch «Unheilige Allianz gegen den Hunger» von Florianne Koechlin.

Es geht auch ohne Chemie

1. Push and pull: Pflanzendüfte gegen den Stängelbohrer

In Ost-und Südafrika ist Mais das wichtigste Grundnahrungsmittel. Schädlinge wie der Stängelbohrer verursachen oft riesige Schäden und vernichten bis zu 80 Prozent der Ernte.
Doch es gibt eine hocheffiziente biologische Methode gegen diesen Schädling: Zwischen die Maisreihen pflanzen Bäuerinnen und Bauern die bodenbedeckende Bohnenpflanze Desmodium. Deren Geruch stösst den Stängelbohrer ab und vertreibt ihn aus dem Feld. Gleichzeitig bringt Desmodium wertvollen Dünger (Stickstoff) in den Boden und schützt ihn vor Erosion.
Das ist der eine Teil des natürlichen Pflanzenschutzsystems. Der andere besteht darin, dass um die Felder drei Reihen Napiergras angebaut wird. Der Duft dieses Grases zieht den Stängelbohrer an und lockt ihn aus dem Maisfeld heraus. Napiergras produziert zudem einen klebrigen Stoff, der für die Larven des Stängelbohrers zur Falle wird. Durch das Hinaustreiben und Anlocken (push and pull) können die Maiserträge um bis zu 300 Prozent gesteigert werden. Darüber hinaus sind Desmodium und Napiergras gutes Viehfutter. Mittlerweile wenden rund 90’000 Bauern die Push-and-pull-Methode an.

2. MASIPAG: Bauern werden zu Forschern

MASIPAG ist ein Netzwerk von Bauernorganisationen und Wissenschaftlern auf den Philippinen – eines der weltweit grössten und erfolgreichsten dieser Art. Das Netzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, lokal angepasste Reissorten zu erhalten und zu züchten. Doch ebenso wichtig ist es, die Bauern und Bäuerinnen aus der Schulden- und Armutsfalle zu befreien und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Das Vorgehen bei der Züchtung der Reissorten ist immer gleich: Will ein Dorf mitmachen, müssen die Bauern zuerst ein Feld für die «Versuchsfarm» zur Verfügung stellen.
Darauf pflanzen sie zusammen mit MASIPAG-Züchtungstrainern mindestens 50 verschiedene Reissorten an. Sie beobachten deren Wachstum, evaluieren sie und wählen nach jeder Saison die besten Sorten aus. Diese müssen robust und resistent sein, und sie müssen auch schmecken. Züchtung und Anbau erfolgen biologisch, ganz ohne Pestizide, Agrochemie und ohne Gentechnik.
Inzwischen haben sich rund 60 Bauernorganisationen MASIPAG angeschlossen, etwa 35’000 Bauern und Bäuerinnen; jedes Jahr werden es mehr. In ihren Saatgutbanken bewahrt  und pflegt MASIPAG inzwischen weit über 1000 Reissorten. Die schweren Überflutungen auf den Philippinen haben MASIPAG-Farmen weitaus besser überlebt als konventionelle Höfe, vor allem wegen der grossen Vielfalt und der guten Durchwurzelung des Bodens.

3. Enten und Fische in Reisfeldern

Japanische Bauern fanden heraus, dass sie in ihren Reisfelden ganz auf Pestizide verzichten können: mit Hilfe von Enten und Fischen. Diese können alle Schadinsekten in Reisfeldern in Schach halten, und sie liefern wertvolle Lebensmittel für die Familien.
Die Enten fressen Unkräuter, Unkrautsamen, Insekten und andere Schädlinge – und verringern so die Jätarbeit. Ausserdem ist Entenkot ein guter Dünger. Auch Fische fressen Insekten und liefern Dünger.
Das System wurde nach ersten japanischen Erfolgen auch in China, Indien, Bangladesch und andern Ländern eingeführt. Eine Evaluation in Bangladesch ergab, dass die Reiserträge um 20 Prozent und die Nettoeinkommen der Bauernfamilien gar um 80 Prozent stiegen.

Nächster Artikel