Kein Land hat im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Flüchtlinge als der Libanon. Sie leben in zunehmend prekären Umständen. Mehr als die Hälfte sind Kinder im Schulalter. Viele von ihnen gehen seit Jahren nicht zur Schule. Einige haben Glück und können in «tragbaren» Schulgebäuden unterrichtet werden.
Die Rota Schule in Saadnayel nahe der syrischen Grenze ist eine informelle Schule für Flüchtlingskinder.
(Bild: Astrid Frefel)Bei Schulbeginn gehts im Gänsemarsch in die Klassenzimmer.
(Bild: Astrid Frefel)Rund um die Schule stehen wilde Zeltlager.
(Bild: Astrid Frefel)Die einzelnen Elemente bestehen aus einfachen Materialen und können leicht abgebaut und woanders wieder aufgestellt werden.
(Bild: Astrid Frefel)Oft haben die Lehrer Mühe Aufmerksamkeit zu gewinnen.
(Bild: Astrid Frefel)In der kleinen Küche werden «libanesische Pizze» gebacken.
(Bild: Astrid Frefel)In der Pause wird zu lauter Musik getanzt.
(Bild: Astrid Frefel)Heute werden zum ersten Mal Bücher verteilt. Bisher hatte man sich mit Fotokopien beholfen. Hunderte Kinderaugen staunen über die bunten Unterrichtsmittel für Geschichte, Mathematik oder Englisch, auf dem Schulhof sauber nach Stufe sortiert.
«Diese Kinder gehören zu den Glücklichen, sie lernen gerne», sagt Saana, eine junge Lehrerin, selbst Flüchtling aus Deraa. Die Rota-Schule in Saadnayel, einer Kleinstadt in der Bekaa-Ebene mit 10’000 Einwohnern und 35’000 Flüchtlingen, steht gleich neben einer Reihe von Zelten, wie sie in dieser Gegend wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.
Im vergangenen Jahr hat die Zahl dieser wilden Camps im Libanon um 80 Prozent auf 5082 zugenommen; nicht, weil es mehr Flüchtlinge gibt – es sind sogar etwas weniger –, sondern weil immer mehr von ihnen in prekären Umständen leben, sich keine andere Unterkunft mehr leisten können.
Ein kleines Stück Unbeschwertheit
Diese Schule ist eine sogenannte informelle Schule, die von der lokalen NGO Kayany zusammen mit der Amerikanischen Universität in Beirut (AUB) als Partner getragen wird. Ihr Konzept: Erziehung zu den Flüchtlingen in den wilden Zeltlagern bringen, und zwar mit «tragbaren» Schulgebäuden. Geistiger Vater dieser «Ghata» (Arabisch für Decke) ist Rabih Shibli, Architekt und Direktor des Zentrums für ziviles Engagement und Gemeinschaftsdienste an der AUB, das 2012 verschiedene Hilfsprojekte für die syrischen Flüchtlinge lanciert hat.
Ghata ist eine Antwort auf den temporäreren Status der Flüchtlinge und die staatliche Vorgabe, dass keine festen Strukturen errichtet werden dürfen. Shibli spricht von proaktiver Architektur. Ghata ist eine multifunktionale Struktur, leicht, tragbar, anpassungsfähig, nimmt Rücksicht auf das Klima und ist ökonomisch effizient. Ein Grundelement von 20 Quadratmetern ist für eine Familie gedacht, zwei zusammen ergeben ein Klassenzimmer. Gehen die Flüchtlinge nach Syrien zurück, kann die Schule oder «das Haus» abgebrochen und in der Heimat wieder aufgebaut werden.
In Ruhe unterrichten können die Lehrer hier nicht. Die Kinder bringen die Probleme von zuhause mit.
Morgens um acht ist Appell, und dann geht es im Gänsemarsch in die Klassenzimmer. Kayany hat die Knirpse auch mit Schuluniformen, Windjacken, Rucksäcken und Stiften ausgestattet. Nur um den Transport müssen sich die Eltern kümmern. Am Nachmittag, in der zweiten Schicht, sind dann die älteren Kinder bis zur sechsten Klasse an der Reihe.
In der grossen Pause erhalten die Schüler einen Snack, meist ein Sandwich. Heute wird wie jeden Freitag in der kleinen Küche Manoucheh mit Zaatar gebacken, die libanesische Variante der Pizza. Es sei schwierig, in Ruhe Unterricht zu halten, denn die Kinder würden die Probleme von zuhause mitbringen, schildert Sanaa ihren Alltag. In der Pause wird gespielt und zu lauter Musik getanzt; für einen Moment scheint die Atmosphäre unbeschwert.
Lehrer mit eigenen Sorgen
Die syrischen Lehrerinnen und Lehrer haben ihre eigenen Sorgen. Ihre Gespräche drehen sich ständig darum, wie sie über die Runden kommen, trotz zum Teil gleich mehrerer Jobs. Für die meisten dauert das Exil schon mehr als zwei Jahre. Das Leben im Libanon ist teuer. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt so gross, dass die Löhne tendenziell sinken. «Wir sind alle müde. Dieses Leben ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft zehrt an uns», sagt der Schulprinzipal, früher Röntgentechniker in einem Spital in Idlib, der in die brüchige Waffenruhe nicht viel Vertrauen hat.
Nour, Mervat und Wedad sind in der Schule Freundinnen geworden, sie kommen aus ganz verschiedenen Ecken Syriens aus Aleppo, Homs und Reef-Damaskus. Die Zehnjährigen versuchen mit ihren Englischkenntnissen zu glänzen. Die mangelnden Englischkenntnisse sind ein wichtiger Grund, weshalb syrische Kinder Probleme in öffentlichen libanesischen Schulen haben, wo Fremdsprachen intensiv gelehrt werden. Die Rota-Schule mit ihren 450 Kindern in Saadnayel ist deshalb begehrt wie auch andere ähnliche Angebote. Täglich kommen Eltern vorbei, die abgewiesen werden müssen.
Die Abbrecherquote bleibt hoch. Viele Kinder, vor allem in den wilden Camps, müssen arbeiten.
53 Prozent der knapp 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge im Zedernstaat sind schulpflichtige Kinder. Im September 2015 hat die Regierung zusammen mit der UN eine Kampagne «zurück zur Schule» lanciert. Eine eben veröffentlichte Studie der Université Saint-Joseph hat ergeben, dass jetzt 60 Prozent der Schüler zur Schule gehen, davon 47 Prozent in die staatlichen Schulen. Für sie wurden 25’000 neue Lehrer eingestellt und Nachmittagsschichten eingeführt. Die Abbrecherquote bleibt hoch – über 40 Prozent der Kinder fühlt sich im Libanon nicht glücklich – und viele Kinder, vor allem in den wilden Camps, müssen arbeiten. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef spricht deshalb schon von einer verlorenen Generation.
Gefährliche Konkurrenz
Das Unterrichtsministerium ist bemüht, auch die Kontrolle über alle informellen Schulen zu übernehmen und hat bereits mehrere zweifelhafte Einrichtungen geschlossen. Auch im Wettbewerb um Schüler seien Extremisten am Werk, bestätigt Shibli von der AUB. Das hängt auch damit zusammen, dass der Libanon keine schlüssige Strategie für die Flüchtlingshilfe hat und wegen der institutionellen Schwäche eine schlechte Bilanz in der Umsetzung ausweist.
Ausländische Geldgeber sind deshalb zurückhaltend, weil sie Angst vor der grassierenden Korruption im Zedernstaat haben. Shibli, der 2006 viel Erfahrung beim Wiederaufbau des Südlibanon nach dem Krieg mit Israel gesammelt hatte, schlägt deshalb vor, dass der Hilfsmechanismus reorganisiert und dezentral über die lokalen Behörden gearbeitet wird. Von der Stärkung, dieser Institutionen und der regionalen Infrastruktur würde auch die lokale Bevölkerung profitieren, vor allem weil die Flüchtlinge in den ärmsten Regionen besonders stark konzentriert sind.