Das Dreispitz-Areal wandelt sich von einer abgeschotteten Gewerbezone zum offenen Stadtquartier – das freut nicht alle.
Der Morgen auf dem Dreispitz-Areal beginnt noch immer am selben Ort wie vor 40 Jahren: In der rot gestrichenen Dreispitz-Kantine an der Frankfurt-Strasse. In der urchigen Beiz wartet an diesem Morgen um sechs Uhr ein einzelner Gast auf den bestellten Kaffee. Vor 30 Jahren waren um diese Zeit die Holzstühle in der Kantine meistens voll besetzt. Doch seither hat sich auf dem Dreispitz-Areal vieles verändert.
Kaum jemand weiss das so gut wie Yvonne Jauslin. Sie steht seit 35 Jahren in der Kantinenküche und versorgt die Arbeiter, Fernfahrer und Lageristen mit Cordon bleu, Bratwurst und Spaghetti. «Ich stehe jeden Morgen um fünf Uhr im Betrieb.» Die Zahl ihrer Gäste ist aber deutlich zurückgegangen. Viele Unternehmen sind weggezogen. Immerhin bringt mir noch jeden Morgen ein Stammgast einen Stapel Gratiszeitungen mit für unsere Gäste am Mittag.»
Die Köchin verschwindet in der Vorratskammer, um die frisch gebackenen Brötchen aus dem Ofen zu holen. Lange wird sie das nicht mehr machen, sie nähert sich ihrer Pensionierung, und der Nutzungsvertrag der Kantine läuft in einem Jahr aus. Die neuste Entwicklung des Dreispitz-Areals verfolgt Yvonne Jauslin skeptisch. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktioniert», sagt sie.
Während sich langsam die Morgendämmerung über dem Areal ausbreitet, rauscht auf der Frankfurt-Strasse mit viel Getöse ein erster Container-Lastwagen vorbei.
Kultur soll Geld zum Sprudeln bringen
Steter Wandel gehört seit jeher zur Geschichte des Dreispitz-Areals. Ab 1840 erwarb der Stiftungsgründer Christoph Merian das damalige Landwirtschaftsgebiet Stück für Stück und führte es während vier Jahrzehnten als Hofgut. Die landwirtschaftliche Nutzung rückte in der Folgezeit zunehmend in den Hintergrund, unter der Regie der Stadt entwickelte sich das Areal allmählich zum Materiallagerplatz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kündigte sich ein weiterer Wandel an: Immer mehr Gewerbebetriebe liessen sich nieder und machten aus dem Dreispitz jenes Gewerbegebiet, das es bis heute geblieben ist.
Doch die Weichen für den nächsten Wandel sind gestellt, ein weiterer Transformationsprozess ist bereits im Gang. Die Eigentümerin, die Christoph Merian Stiftung (CMS), will das Areal in eine gewinnbringende Zukunft führen. «Wohnen, Kultur und Arbeiten» heisst die Zauberformel. Die Kultur soll dem Areal die nötige Ausstrahlung geben, um finanzkräftige Investoren und Mieter anzulocken.
Das planerische Herzstück des neuen Dreispitz-Quartiers liegt im Osten des Areals. Auf dem Kunstfreilager entsteht in den kommenden Jahren Grosses. Das alternative Radio X, das neu gegründete Haus für elektronische Künste und zahlreiche Ateliers haben sich bereits eingenistet. Im entstehenden Quartier bestimmen zurzeit aber noch Stahlträger und Zementmischer das Bild.
Mit dem Einzug der Hochschule für Kunst und Gestaltung im kommenden Jahr soll das Kunstfreilager dann eine Initialzündung erleben. Weitere Bauten werden folgen: Das Transitlager wird zu einem Wohn- und Geschäftshaus umgebaut, Herzog & de Meuron planen ein weiteres Hochhaus, und auch das Zollfreilager soll nach dem Umbau Platz bieten zum Wohnen und Arbeiten. Unter dem Titel «Luxus des Raumes» wirbt die CMS auf ihrer Internetseite für Loftwohnungen. Mit der Bank UBS hat die Stiftung für das Transitlager bereits einen ersten Investor für die Wohnungen gefunden.
Wer ausserhalb des Kunstfreilagers die ersten Anzeichen des Transformationsprozesses finden möchte, muss genau hinschauen. Während in der Morgendämmerung die Industriehallen an Kontur gewinnen, tauchen aus allen Richtungen Arbeiterinnen und Arbeiter auf.
In den Gewerbegebäuden gehen die Lichter an, über dem Containerdepot setzt sich der Kran in Bewegung und belädt lärmend die ersten Lastwagen. Auf den Strassen herrscht bereits reger Verkehr. Ein Sattelschlepper und ein Lieferwagen rasen auf der engen Strasse aneinander vorbei. Fussgängern bleibt nur der rettende Sprung auf die Gleisanlage.
Auch hinter den Fenstern der Burkhardt-Jundt AG brennen an diesem frühen Morgen die Lichter. Carlo Figini ist Mitinhaber des Kleinstbetriebs und gerade dabei, einen Lastwagen zu beladen. «Für mich ist diese Umnutzung mit Wohnungen noch in weiter Ferne. Ich habe den Eindruck, das geht alles langsamer, als es sich die Planer vorgestellt haben.» Auch wie die Probleme mit dem Lärm und dem Verkehr gelöst werden sollen, sei ihm noch nicht ganz klar, sagt der Kleinunternehmer.
Die Verkehrsproblematik wird bei den Begegnungen auf dem Areal immer wieder zum Thema. Die Skepsis ist gross, ob Lastwagenverkehr, Loftwohnungen und rund 1000 Studierende nebeneinander Platz finden werden. Fahrziel vieler Lastwagenfahrer ist das Containerdepot der Firma Leimgruber in der Mitte des Areals. Hier lagern die leeren Container bis zu ihrer Wiederverwendung. Der Kranfahrer belädt und entlädt hier täglich rund 120 Lastwagen.
Depot-Leiter Robert Leimgruber ist sich des Konfliktpotenzials bewusst. Für sein Unternehmen sieht er indes wenig Handlungsspielraum. «Da muss sich halt der Individualverkehr an die Lastwagen gewöhnen. Ebenso wie die Studenten.»
Ein anderes Thema ist der Lärm. Der von der CMS geplante Boulevard liegt nur einen Steinwurf vom Containerlager entfernt. Das Kunstfreilager mit den geplanten Loftwohnungen kommt gleich dahinter. Leimgruber: «So nahe nebeneinander, das ist schon eine schwierige Situation.»
Was sich auf dem Dreispitz-Areal entfaltet, ist ein komplexes Konstrukt aus Ansprüchen und Bedürfnissen. Die CMS spricht mit gutem Grund von einem «Generationenprojekt». Die Umnutzung des Areals ist nur in kleinen Schritten möglich. Will die Christoph Merian Stiftung Konflikte vermeiden, muss sie sehr behutsam vorgehen.
Konflikte mit dem «alten» Gewerbe
Wie rasch sich andernfalls Widerstand formieren kann, zeigte sich vor zwei Jahren, als die Gewerbetreibenden mit Unterstützung der IG Dreispitz Einsprache gegen den Nutzungsplan einreichten. Entsprechend behutsam scheint die Stiftung die weitere Entwicklung voranzutreiben.
Von den ehemals vorgesehenen Quartiernamen «Soho» und «Manhattan» hat sich die Stiftung bereits vor längerer Zeit verabschiedet. Neu soll auch der geplante Boulevard seinen alten Namen beibehalten und als Wien-Strasse seiner neuen Nutzung als Begegnungszone zugeführt werden.
Bis dahin dürfte es aber ohnehin noch seine Zeit dauern. Die Rangiergeleise sind nach wie vor fest im Boden verankert. Bis hier eine Begegnungszone entsteht, muss noch einiges passieren. Als deutlicheres Zeichen für die Veränderung stehen die «Urban Farmers» einige Meter weiter. Auf dem Dach einer Garage züchten dort Jungunternehmer Gemüse, Salat und Fische für den lokalen Verbrauch. Der Fisch landet unter anderem auf den Tellern des benachbarten Restaurants Schmatz.
Es liegt an der Frankfurt-Strasse und ist Teil der Baselcitystudios, die im selben Gebäude seit mehreren Jahren auf dem Dreispitz einquartiert sind. Eine Öffnung des Dreispitz kommt dem Gastronomiebereich des Unternehmens gelegen. In der Nacht sind immer noch grosse Teile des Areals mit Barrieren verschlossen, die Anfahrt bis zum Restaurant ist nach 22 Uhr nur noch auf Anfrage an die Verwaltung möglich.
Das Dreispitz-Areal ist für die CMS auch eine Investition. Und das merkt man.
Co-Inhaber Guy Blattmann beobachtet die Entwicklungen in seiner Nachbarschaft mit Interesse und Skepsis. «Ich finde es gut, dass sich etwas tut. Aber ich frage mich schon, ob die geplanten Luxuswohnungen hier am richtigen Ort sind.» Er beneide die Planer nicht um ihre Aufgabe, sagt Blattmann und spricht einen weiteren zentralen Punkt an: «Die Christoph Merian Stiftung hat eben zwei Gesichter. Einerseits engagiert sie sich für das Gemeinnützige, andererseits ist es eine Stiftung mit einem riesigen Stiftungsvermögen. Das Dreispitz-Areal ist für die CMS auch eine Investition. Und das merkt man.» Die CMS beschleunige die Entwicklung, dies sei nicht im Interesse aller bestehenden und auch nicht aller potenziellen Nutzer.
Die Pläne der Christoph Merian Stiftung kollidieren immer wieder mit den Interessen von Gewerbetreibenden, die ungenannt bleiben möchten. Diese werfen der CMS vor, sie plane das Areal auf dem Reissbrett, dabei fehle es ihr an der notwendigen Realitätsnähe.
So sah etwa ein Gemüselieferant eines Tages auf den Plänen der CMS seine Laderampen von einer verbreiterten Strasse zerschnitten, und auch das Restaurant Schmatz sah sich verkleinert: Dort, wo sich die Sommerterrasse des Restaurants befindet, soll in Zukunft eine Zuglinie durchführen. So zumindest sieht es ein kursierender Arealplan vor.
Dreispitz soll ein offenes Stadtareal werden
Ganz so endgültig sei das nicht, sagt der Immobilienverantwortliche der CMS, Felix Leuppi: «Es ist noch unklar, ob diese Schienen tatsächlich dort durchführen. Wir werden mit dem Restaurant in jedem Fall eine Lösung finden.»
Treffpunkt mit Arealplaner Leuppi ist die «Rakete», das neuste Stiftungsprojekt auf dem Dreispitz. Am Eingang zum Areal steht seit Januar eine Containerburg mit günstigen Ateliers für Künstler. Im Erdgeschoss, von der CMS als «Cockpit» bezeichnet, wartet Leuppi mit dem Kommunikationsverantwortlichen Toni Schürmann. Angesprochen auf die Kritik der verschiedenen Nutzer, antwortet Leuppi: «Wir wollen nichts anderes, als Teile des Dreispitz in offene Quartiere verwandeln.» Der Grossteil des Dreispitz bleibe Arbeitsgebiet. Es sei nicht das Ziel, als Investor gross auftreten zu müssen. «Wir haben aber erkannt, dass es notwendig ist, einige Vorinvestitionen und Leuchtturmprojekte zu ermöglichen, um das Gebiet voranzubringen.»
Schürmann ergänzt: «Wir haben die Absicht, eine nachhaltige Entwicklung für die nächsten Jahrzehnte zu initiieren. Die Grundangst war immer, dass hier eine Industriebrache entsteht. Das wollten wir verhindern. Zugleich ist der Dreispitz auch ein ganz wichtiger Ertragsfaktor für die Stiftung.»
In den vergangenen Jahrzehnten agierte die CMS zurückhaltend auf dem Dreispitz-Areal. Zeitweise kümmerte sich der Kanton Basel-Stadt um die Verwaltung des Gebiets. Seit einigen Jahren hat die Stiftung aber ihre Zurückhaltung abgelegt. Von der Arealbesitzerin wurde sie innert weniger Jahre zur Stadtteilentwicklerin.
Eine Rolle, die in dieser Dimension in der Geschichte der Stiftung einzigartig ist. Dabei prallen auf engstem Raum die unterschiedlichen Stiftungsinteressen aufeinander. Mit ihrem Vermögen finanziert die CMS Ateliers im Kunstfreilager sowie das Haus für elektronische Künste.
Auf der anderen Strassenseite sollen Lofts Investoren und Mieter anlocken und dazu beitragen, den Stiftungsgewinn zu vergrössern. Profiterwirtschaftung auf der einen Strassenseite, Stiftungszuwendungen auf der anderen. In den Augen von Felix Leuppi kein Gegensatz: «Dass jetzt beides auf dem gleichen Gebiet passiert, ist Zufall. Sie können uns auch unterstellen, es sei clever gesteuert.» Nur ein kulturell entwickeltes Umfeld lasse eine solche Transformation zu. «Natürlich nutzen wir dieses Potenzial.»
Zu dritt steigen wir auf den Gerüstturm neben der «Rakete». Rund 16 Meter über dem Boden überblicken wir fast das gesamte Areal. «Da drüben», erklärt Leuppi, «sehen Sie das künftige Transitlager. Dort oben drauf kommen dann die Wohnungen. Stellen Sie sich diese Aussicht vor!» Luxuswohnungen sollen gemäss Leuppi keine entstehen. «Den Preis machen aber nicht wir, den macht der Investor.»
Ein kulturell genutztes Gebiet mit Hochschule und Ateliers braucht Freiheiten, um sich zu entfalten. Und dieses Freiheitsbedürfnis kann auch Lärm verursachen. Leuppi wiegelt ab: «Man ist jetzt daran, diesem Problem zu begegnen.»
Um ein geordnetes Nebeneinander zu ermöglichen, soll eine Interessengemeinschaft gegründet werden, in die alle Areal-Nutzer einbezogen werden. Die Bewohner sollen nicht durch das Partyvolk belästigt werden, Partys sollen aber trotzdem möglich bleiben. «Schliesslich sollen auf dem Dreispitz urbane Quartiere entstehen», sagt Leuppi. «Und urban bedeutet für uns ein städtisches, dichtes Gebiet. Ein Gebiet, in dem verschiedene Nutzungen möglich sind und eine Koexistenz zwischen Arbeiten und Wohnen möglich wird.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.03.13
22.3.2013: In der ersten Version dieses Artikels schrieb die TagesWoche: «Mit ihrem Vermögen finanziert die CMS Ateliers im Kunstfreilager, ebenso Radio X und das Haus für elektronische Künste.»
Diese Darstellung ist, was Radio X betrifft, nicht korrekt. Die CMS finanziert Radio X nicht, vielmehr ist Radio X deren Mieter. Radio X und die CMS arbeiten projektbezogen zusammen, aktuell etwa in den Bereichen Integration und Sprachförderung. Dieser Fehler wurde korrigiert.