Die trockenen Blätter machen den Waldboden rutschig. Immer wieder müssen wir reflexartig balancieren. Hätten wir doch nur nicht so viel mitgenommen. Aber wir sind halt Schlemmer.
Von einem Parkplatz am rechten Ufer der Verzasca sind wir in den Wald eingetaucht. Jetzt suchen wir einen Abstieg zum kühlen Nass. Und ein Plätzchen für den Grill. Schattig soll es sein und mit einem ruhigen Pool im Flüsschen. Wir haben Ansprüche. Im wilden Oberlauf der Verzasca sind die Voraussetzungen dafür am besten.
Zwischen zwei Felsen gross wie Einfamilienhäuser leuchtet in der Mittagssonne das Grün, das der Verzasca ihren Namen gab. Acqua verde. Wir klettern abwärts und reichen uns gegenseitig Kühlbox, Bier und Grill. Auf dem Dach des Einfamilienhaus-Felsens wächst ein Tännlein. Hoffentlich rutscht der Brocken nicht. Es schaudert mich.
Am Fluss herrscht ein Riesenmais. Überall Wasserfälle. Kleine, süsse plätschernde. Und grosse, massive, tosende. Hinter einer Kiesdüne ist es etwas ruhiger. Hier bleiben wir. Waren ablegen und – «Zisch» – Prost! Der Aufwand hat sich gelohnt. Auf dem Grill liegt eine kulinarische Tour d’Horizon: Peperoni, Zucchetti, Spiesschen, gefüllte Pilze, Steaks.
Zehen tunken im glasklaren Grün
Während der brutzelnde Grill unsere Ecke langsam mit köstlichem Duft füllt, schauen wir uns um und klettern schliesslich auf die umliegenden Felsen. Das ist nicht ganz ohne. Zuhause steigt auch niemand aus Spass aufs Dach. Rundherum ist es Grau vor lauter Felsen. In den Zwischenräumen unter uns fliesst das smaragdgrüne Wasser. Ganz ruhig und friedlich. Nur wo es über einen Vorsprung stürzt, zeigt sich die Gewalt der Verzasca.
Weiter vorne, hinter einem Felsen, fliesst sie unter einer Brücke hindurch. Es ist aber nicht der berühmte Ponte dei Salti, die ist weiter unten. Die Steinbrücke aus dem 17. Jahrhundert fällt wegen ihrer Doppelbögen. Der Weg auf der Brücke ist nicht eben, sondern folgt den Bögen, wohl um Baumaterial zu sparen. Es macht die Brücke filigran und sehenswert.
Nach dem Essen verzichten wir fahrlässig auf die gebotene Ruhezeit und stürzen uns in die Bademode. Vorsichtig tunken wir den grossen Zehen ins Grün. Ein Schauern. Zunächst stellen wir das Bier in diesen natürlichen Wasser-Kühlschrank. Dann raubt uns die Tessiner Mittagsglut die letzten Hemmungen. Plantsch.
Im Wasser bleiben wir vorsichtig. Schon nach wenigen Metern ist der Sog deutlich spürbar. Wir wechseln in ein ruhigeres Becken. Hier ist das Wasser weniger tief und wärmer. Den Nachmittag verbringen wir abwechselnd auf Felsen an der Sonne und im glasklaren Nass. Herrlich.
Spazieren wie vor 100 Jahren
Langsam erreichen die Schatten erst unseren Liegefelsen und dann die andere Uferseite. Wir packen zusammen. Mit der nun leeren Tiefkühltruhe ist der Aufstieg leichter. Dem Fluss entlang fahren wir bergwärts. An uns ziehen malerische Dörfchen vorbei. Wir wollen nach Sonogno, das letzte Dorf im Tal.
Hier spazieren wir durch die engen Gassen. Die Zeit steht still. Die Häuser sehen wohl noch genau so aus wie vor 100 Jahren. Mindestens. Mühsam wurden aus Steinbrocken Wände, aus Steinziegeln Dächer geschichtet. Da und dort begegnen uns Wanderer und Biker. Sonst ist es ruhig. Nach mehreren Auswanderungswellen im 20. Jahrhundert leben heute keine 100 Einwohner mehr in Sonogno.
Die Einheimischen sind bemüht, die hiesige Kultur zu bewahren. Dafür wurde eigens ein Verzasca-Museum eingerichtet. Es zeichnet ein Bild vom Dorfleben des 19. Jahrhunderts. Auch in anderen Dörfern des Tals erhält der Museumsverein historische Bauwerke.
Tessiner Platte und Boccalino
Ein paar Schritte ausserhalb Sonognos treffen wir auf die Grotto Efra. An einem grossen Steintisch unter den Bäumen sitzend, bestellen wir Weisswein aus einem Boccalino und eine Platte mit lokalen Spezialitäten. Ein Flashback vom Nachmittag: einige 100 Meter entfernt rauscht der Wasserfall La Froda.
Die jungen Hausherren bereiten sich gerade auf einen Anlass vor. Das Eventprogramm bietet ein Potpourri aus Konzerten, Filmabenden und Sportübertragungen. Heute findet der Event ohne uns statt. Der Wein ist aus, die Platte leer und auch das Gelato, zu dem wir uns hinreissen liessen, ist ausgelöffelt. Zeit für den Rückweg.
In etwa einer Stunde erreichen wir unseren Zeltplatz am Lago Maggiore, wo wir den Abend ausklingen lassen. Vielleicht fahren wir morgen nochmals hoch. Zum grünen Fluss zwischen den Felsen.