Alles wartet auf sein Zeichen. Der Maestro hebt die Hand – und über die Bergwiese dröhnt eine Sinfonie aus Kuhglockengeläut, bis sich zum Sforzando ein ganzer Vogelschwarm aus dem Tannenwald erhebt und jubilierend im Alpenpanorama verschwindet: Paolo Sorrentino, das begnadete Wunderkind des italienischen Autorenkinos, schickt den magischen Realismus in seinem neuen Film «Youth» zur Höhenkur in das Davoser Jugendstil-Hotel Schatzalp.
Schatzalp? Da klingelt es auch bei literarisch bewanderten Feuilletonisten: An der Pressekonferenz zur diesjährigen Cannes-Premiere stellte eine deutsche Journalistin denn auch die unvermeidliche Frage, wie Sorrentinos Geschichte um einen alternden Dirigenten (Michael Caine) mit Thomas Manns Epos «Der Zauberberg» zusammenhänge.
Er kenne das Buch nicht, lautete die lakonische Antwort des Regisseurs, und man möchte ihm das sogar glauben: Wie er den Schwanengesang auf den jugendlichen Sturm und Drang als Ballett der Hinfälligkeit inszeniert und in zauberische Tableaus rahmt, verrät eher den Bildermenschen als einen Bücherwurm. Sorrentino weiss ein filmisches Motiv ganz einfach zu schätzen und holt aus knittriger Haut ebenso viel heraus wie aus einer blankpolierten Kühlerhaube: In der Branche ist der Regisseur als Werbefilmer begehrt.
Mehr als ein Handwerker
Doch trotz eines Hangs zur ästhetischen Grandezza kann der Regisseur nicht auf oberflächliches Handwerk reduziert werden. Wer seine Filme Revue passieren lässt, die im Stadtkino Basel den ganzen September über zu sehen sind, erkennt die Leidenschaft, die den Regisseur antreibt oder besser: das Mitleiden. Der melancholische Dirigent in «Youth» und dessen Künstlerfreund, ein abgehalfterter Regisseur (Harvey Keitel), sind längst nicht die einzigen Figuren in Sorrentinos Werk, die das Leben leckgeschlagen hat.
Mit «Il divo», dem genialen Porträt des gestrauchelten italienischen Premiers Giulio Andreotti, gelang Sorrentino 2008 der internationale Durchbruch. Der Film erzählt von den «bleiernen Jahren» Italiens, von Terror und Korruption. 40 endlose Amtsjahre lang absolviert der «Göttliche» (grossartig: Toni Servillo) einen Spiessrutenlauf zwischen Macht und Ohnmacht, verfolgt vom Geist seines ermordeten Rivalen Aldo Moro. Ein erbärmlicher Wicht, aber eben auch nur ein Mensch.
Sorrentinos Satire kommt nicht immer auf Samtpfoten daher, der Neapolitaner kann in seinen filmischen Mitteln äusserst rabiat werden: Seine Freude am Derben und Grotesken fordert zum Vergleich mit Fellini heraus, an dem er aus verständlichen Gründen nicht gemessen werden will. Wer gegen das Monument des italienischen Films anrennt, kann sich an dessen Sockel nur den Kopf blutig schlagen. Zu seinen Einflüssen zählt Sorrentino deshalb lieber das US-amerikanische Kino mit den Coen-Brüdern und den beiden Anderson, Paul Thomas und Wes. Deren Kniff, die Wirklichkeit surreal zu überhöhen und Emotionen kontrolliert eskalieren zu lassen, hat sich Sorrentino abgeschaut.
Vom Flop zum Oscar
Mit «This Must Be the Place» drehte der Italiener 2011 seinen ersten englischsprachigen Film und machte dabei aus seinen Ambitionen keinen Hehl: Frances McDormand und Sean Penn spielen Hauptrollen, die Musik stammt vom ehemaligen «Talking Heads»-Frontmann David Byrne. Wie der apathische Dirigent in «Youth» ist auch Penn ein desillusionierter Musiker, der das Vergessen sucht.
Mit dickem Kajalstrich und schwarzer Struwwelpeter-Perücke spielt er einen alternden Glamrocker, der einen ehemaligen Nazi-Schergen stellen will. Der visuellen Eleganz des Films kann der sperrige Holocaust-Plot zwar nicht bis zuletzt folgen, aber die Kühnheit, mit der Sorrentino auf den ersten Blick Unvereinbares zusammenführt, bleibt bemerkenswert. Ausgerechnet in den USA war das anglophile Roadmovie ein Flop.
Sorrentinos epischer Rom-Film «La grande bellezza» um einen alternden Zyniker hingegen trug ihm 2014 neben weiteren Fellini-Vergleichen den Oscar für den besten fremdsprachigen Film ein.
Nach diesem Ausflug in den moralischen Morast der Grossstadt reist der Regisseur mit «Youth» jetzt in die gesunde Schweizer Höhenluft, aber seine Figuren kränkeln weiter an den grossen Fragen nach den letzten Dingen. Es ist ein mitunter frotzelndes, spätpubertäres Leiden an der Welt, mit dem die alten Männer ihre Angst vor der eigenen Vergänglichkeit betäuben, doch Sorrentinos fantastische Bildeinfälle verströmen mehr Schmerz, Hoffnung und magische Heiterkeit, als die Männer fassen können.
Und die Frauen?
Er sei kein Frauenversteher, bekommt der verkrachte Regisseur in «Youth» von seiner Muse (Jane Fonda) zu hören. So viel Selbstironie und Selbsterkenntnis muss sein. Auch wenn Sorrentino seine Miss Universe mit einem hellen Köpfchen ausstattet und den Dirigenten von dessen Tochter (Rachel Weisz) ausschelten lässt, redet der Regisseur eben doch lieber über Fussball als über die tiefere Bedeutung seiner Filme: Ein Enfant terrible pflegt seinen Spieltrieb.
Und so bolzt ein Diego-Maradona-Doppelgänger in «Youth», unförmig wie ein Wal, seinen Tennisball weiter in den blauen Himmel über Davos, als gäbe es kein Morgen.