Zeitmaschine: Lebende Bildpunkte

Vom Gruppen- zum Truppenbild ist es nur ein kleiner Schritt – vorausgesetzt, der Fotograf ist ein begnadeter Diktator.

Living Insignia of the 27th Division, 1919 (Bild: Mole & Thomas)

Vom Gruppen- zum Truppenbild ist es nur ein kleiner Schritt – vorausgesetzt, der Fotograf ist ein begnadeter Diktator.

Das Porträt einer einzelnen ­Person ist ja schon eine schwierige Angelegenheit. Stimmen endlich das Licht, die Pose und der Hintergrund, kann immer noch einiges schiefgehen. Nebst technischen Problemen (Schärfe, Belichtung) spielen dem Fotografen auch die menschlichen Besonderheiten des Modells Streiche: Blinzeln während der Aufnahme oder unruhiges Herumgezappel (Kinder) erschweren vielmals die Fotositzung.

Sollen gleich mehrere Menschen auf ein Bild, multiplizieren sich die Hindernisse: Einer hat bestimmt immer die Augen zu, schaut nicht in die Kamera oder bekommt von seinem Hintermann zwei Hasenohren verpasst.

Eine Armee von Stillstehenden

Gute Gruppenfotografen sind meistens Diktatoren. Sie müssen den Menschen­haufen herumkommandieren und dessen Aufmerksamkeit im Moment der Belichtung konzentrieren. Der Schulfotograf in meiner Primaschulzeit hat das mit einer Trillerpfeife geschafft.

Der Engländer Arthur S. Mole und sein Partner John Thomas mussten für ihre Truppenbilder gröberes ­Geschütz auffahren. Mit bis zu 30’000 Mann patriotische Propagandabilder ­nachzustellen, ist eine Meisterleistung. Und das nicht nur für die ­Fotografen, die mit einer grossen Plattenkamera und ­Megafon bewaffnet auf einem eigens ­gebauten 25 Meter hohen Turm sassen: Eine ganze Armee von Männern musste mehrere Stunden langstillstehen. Wasserlassen war verboten – oder an Ort und Stelle zu verrichten.

Gute Gruppenfotografen sind meistens Diktatoren.

Arthur Mole arbeitete als Werbefotograf in Zion, Illinois. Im Ersten Weltkrieg und auch in den Jahren danach reiste er zu ­verschiedenen US-Militärstützpunkten, um seine gigantischen Projekte umzu­setzen. Die Vorbereitung eines einzigen Bildes ­dauerte Wochen. Mole errechnete die Anzahl der Personen, die er als lebende «Pixel» gebrauchen würde. Die Positionierung der einzelnen Statisten zu einer Formationsfotografie nahm dann noch einmal mehrere Stunden in Anspruch.

Die Sujets sind insofern bemerkenswert, als sie nicht auf einem einfachen Raster aufbauten, die Anordnung der Statisten erfolgte vielmehr in geschwungenen Linien. Helligkeitsunterschiede und andere Feinheiten gestalteten Mole & Thomas mittels dunkler oder heller Kleidung, Mützen sowie Zwischenräumen in den Reihen. Das gewünschte Bild war nur vom Kamerastandpunkt aus erkennbar (Anamorphose). Das heisst: Um vom Aussichtsturm ein ebenmässiges Bild zu erhalten, musste die Formation im hinteren Bereich um ein vielfaches breiter dimensioniert sein, als im Vordergrund, direkt unterhalb des Turms.

Ob die geduldigen Statisten jeweils ­einen Abzug des Bildes als Belegexemplar erhalten haben, ist nicht überliefert.

Eine moderne Form mit lebenden Bildpunkten präsentiert die Ohio State Marching Band. Bewegt und mit Ton:

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6. Juni 2014:Video hinzugefügt

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