Zucker ist böse, sagt die Alternativ-Mama und gibt dem Säugling seine Zuckerkügelchen gegen das Zahnen.
Die Pharmaindustrie macht uns medikamentenabhängig im Namen des Profits, sagt der Züri-Hipster und nimmt einen Zug von seiner American Spirit.
Hört auf, dieses künstlich hergestellte Zeug in euch hineinzustopfen, sagt die Influencerin und zieht sich abseits der Kamera eine Line vom iPhone. Zusammengescharrt hat sie das Koks mit ihrer American Express. Die ist gut gedeckt mit Einnahmen aus Product Placements auf ihrem Instagram-Profil.
Das Geschäft mit dem schlechten Gewissen boomt. Ernährungsberaterinnen haben katholische Priester beim Ablasshandel längst überholt. Als geläutertes Opfer fundamentalistisch christlicher Erziehung ist mir das Prinzip von Sünde und Fuck-Buddy, dem schlechten Gewissen, bestens bekannt.
Zehn Jahre lang habe ich mich mühsam von meiner Indoktrination emanzipiert. Wie habe ich mich gefreut, endlich loszukommen von den Zwängen der Religion und des Glaubens. Nun aber muss ich mit Schrecken feststellen, dass die Dynamiken des Religiösen ihre Wirkung auch ohne Bibel, Koran und Co. entfalten.
Die Sünde der Wohlstandsverwahrlosten
Die Sünde, der Teufel, die Gebote, der Messias, die Beichte und der Ablasshandel – alles hat sich in die Moderne geschmuggelt und in jeden Winkel unseres Alltags geschlichen. Am meisten fällt mir das bei der Ernährung auf. Wahrscheinlich, weil ich in meinem Freundes- und Feindeskreis einige frischgebackene Eltern, die eine oder andere Influencerin und manch spirituell Stimulierten habe.
Sie strampeln sich ab im Höllenschlund aus Trägheit, verstopften Chakren, manipulativen Grosskonzernen und Chemtrails sprühenden Weltregierungen. Doch ein Bösewicht sticht besonders aus diesem chaotischen Sündenpfuhl hervor. Klar. Kristallklar. Der Zucker! Oder heisst es «das Zucker»? «Der Zucker» klingt nach einem Partytiger auf MDMA, der die Tanzfläche auch am Sonntagabend noch nicht räumen will.
Item: Zucker ist die Sünde der Wohlstandsverwahrlosten. Zucker ist künstlich. Ich erinner mich noch gut an die Zahnteufel, die mittels Zältli unseren Mundraum entweihten, noch lange bevor dies Moslems mit dem christlichen Abendland taten.
Zucker wirkt auf das Gehirn wie Koks.
Die grossen Konzerne pumpen alles voll mit Zucker und machen uns mit ihren Zuckerrohrbomben zu Opfern ihres süssen Krieges. Noch schlimmer: Zucker wirkt auf das Hirn wie Koks! Vor allem bei Kleinkindern. Habt ihr das schon mal beobachtet: Der gierige Blick, das unkontrollierte Herumrennen und Armgefuchtel? Das zusammenhanglose Lallen?
Korrektur: das Gehirn von Ratten. Zucker wirkt wie Koks auf das Gehirn von Ratten. Ist dein Kind eine Ratte? Nein? Dann rennt es vielleicht mit gierigem Blick und lose assoziierend herum, weil es ein Kind ist.
Zucker ist nicht das süss gewordene Böse. Zucker ist Zucker. Niemand glaubt, er tue sich etwas Gesundes, wenn er einen halben Liter Cola in sich reinschüttet. Niemand ist stolz auf sich, wenn er statt dem Jogging einer Staffel «Rick and Morty» und einer Tafel Nuss-Schoggi frönt. Man tut dabei eben nichts Vernünftiges, sondern etwas Geiles! Wenn du willst, darfst du es sündig nennen, aber bitte fick dich ins Knie, du heilige Maria der Saft-Öde.
In Zeiten des Fitness- und Ernährungswahns braucht es die Huldigung des exzessiven Schlemmens.
Übergewichtige Kinder mit Karies sind bestimmt nichts erstrebenswertes, aber wenn ich mir all diese neurotisch fit-gehungerten Selbstdarsteller mit ihren unangetasteten Beeren-Müesli-Kreationen auf sozialen Medien ansehe, zieh ich ein entspanntes Dickerchen vor. So ein Biggie-mässiger Gangsterrapper, einfach ohne Erschossenwerden und so.
Versteht mich nicht falsch. Ich bin überzeugt, dass eine ausgewogene Ernährung und regelmässiger Sport etwas Gutes sind. Ehrlich gesagt betreibe ich Zweiteres seit einem halben Jahr wieder exzessiv, da ich Ersteres seit Tag eins vernachlässigt habe und, wie man diesem Text entnehmen kann, auch weiter vorhabe zu vernachlässigen.
Aber in einer Zeit, wo das bigott prüde Christentum noch omnipräsenter war als heute, brauchte es Heavy Metal und die First Church of Satan als Kontrapunkt. In Zeiten des Fitness- und Ernährungswahns braucht es die Huldigung des exzessiven Schlemmens.
Deshalb hier die Zehn Gebote der vernünftigen Ernährung, garniert mit zünftigen Proll-Sprüchen:
Du sollst entsagen den Kohlenhydraten.
Pasta zählt da nicht dazu, oder? Und wehe, du nennst diese Zucchini-Bandwürmer noch einmal Spaghetti.
Auch jegliche Gluten entbehren dem Guten.
Entweder du leidest an ärztlich diagnostizierter Zöliakie (nein, dein Schamane ist kein Arzt), oder du frisst jetzt einen Teller Pasta mit mir.
Für Beeren sollst du schmachten – Bananen stets verachten.
Da erfinden sie eine einzige leckere Frucht und dann soll man ausgerechnet die nicht essen dürfen. Man bringe mir Bananen, am liebsten als Split.
Du sollst dir erwerben einen Smoothie-Mixer.
Wenn du das Ding unter mein Dach schleppst, bist du des Todes. Dein Erdbeer-Smoothie hat übrigens mehr Zucker als mein Schokokuchen.
Zusatzstoffe und künstliche Aromen sind brünstige Dämonen.
Finger weg von meinen Pizza-Flavour-Flips und immer schön das Proteinpulver in dich reinschaufeln, gell.
Nichts ist so nahrhaft wie das Salatblatt.
Du meinst dieses nutzlose Stück Wiese, das man überwinden muss, um in den Pasta-Himmel vorzudringen? Bitte mit French Dressing.
C-A-F-F-E-E …
Ist mein Freund, meine Inspiration und mein Fels in der Brandung.
Den Eimer Milch, den meide, Knilch.
Laktose-Intoleranz hat man oder hat man nicht. Wenn nicht, dann bitte Fondue. Jetzt.
Das Wasser ist heilig, trinke viel und eilig.
Bist du ein Kamel? Nein? Dann trink einfach ab und zu ein Glas Wasser. Ansonsten bitte hör auf, Wasser zu predigen.
Zucker ist der Teufel – verwehre diesen Greuel.
Hail Satan!