Erzählungen über den Gegensatz zwischen Licht und Dunkelheit existieren seit Tausenden von Jahren. So erzählte man im alten Ägypten laut dem schottischen Religionsethnologen James Georg Frazer (1854–1941), dass der Sonnengott Ra im Dunkel der Nacht einen erbitterten Kampf gegen eine Schar von Dämonen auszutragen habe.
Dabei könne es geschehen, dass die Mächte der Finsternis derart stark seien, dass auch während des Tages dunkle Wolken am blauen Himmel hängen und das Licht des Sonnengottes schwächen.
Die Vorgänge am Himmelszelt erklären wir uns längst anders. Kaum verändert haben sich dagegen die Wertungen und Gefühle, die wir mit Licht und Dunkelheit verbinden. Die finstere Nacht mit ihren unsichtbaren Gefahren erfüllt uns mit Schrecken, der Sonnenschein vertreibt die Sorgen und zeigt die Dinge in ihrer wahren Gestalt.
Auf die Spitze getrieben ergibt sich aus solchen Vorstellungen ein böses Reich der Finsternis und ein gutes Reich des Lichts. Wie wir Ersterem entgehen oder wie wir es gar überwinden können, hängt von der Erzählung ab, deren Teil es ist.
Zum Lichte empor
Elemente solcher sinnstiftender Erzählungen finden sich auch in den Liedern der Arbeiterbewegung. So heisst es im Text der «Internationale» in der deutschen Nachdichtung von Emil Luckhardt: «In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, / wir sind die stärkste der Partei’n. / Die Müssiggänger schiebt beiseite! / Diese Welt muss unser sein; / Unser Blut sei nicht mehr der Raben, / nicht der nächt’gen Geier Frass! / Erst wenn wir sie vertrieben haben, / dann scheint die Sonn‘ ohn‘ Unterlass!»
Eugène Pottier, der 1871 den französischen Originaltext verfasste, liess die entsprechende Strophe in der ersten Fassung mit den folgenden Zeilen enden: «Si les corbeaux si les vautours / un de ces matins disparaissent … / la Terre tournera toujours.» Erst in der Endfassung lautete die letzte Zeile schliesslich: «Le soleil brillera toujours!»
Leuchtende Zukunft
Während in den Versen von Pottier, der «L’Internationale» unter dem Eindruck der Pariser Commune und ihrer brutalen Niederwerfung schrieb, die Sonne lediglich eine Zugabe ist, nimmt sie in einem Arbeiterlied aus dem Jahr 1918 eine zentrale Stellung ein. «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit», heisst es da, «Brüder, zum Licht empor! / Hell aus dem dunklen Vergangnen / leuchtet die Zukunft hervor. / Seht, wie der Zug von Millionen / endlos aus Nächtigem quillt, bis eurer Sehnsucht Verlangen / Himmel und Nacht überschwillt!»
Der Verfasser, der deutsche Dirigent Hermann Scherchen, lernte 1917 in Kriegsgefangenschaft das beliebte russische Arbeiterlied «Tapfer, Genossen, im Gleichschritt» kennen und schuf 1918 eine deutsche Fassung.
Bei Scherchen hat der Kampf für «die Freiheit» fast schon ein kosmisch-apokalyptisches Ausmass. Dazu passt auch die Vorstellung eines Endkampfes, wie sie in der dritten und letzten Strophe zum Ausdruck kommt: «Brüder, in eins nun die Hände, / Brüder das Sterben verlacht! / Ewig, der Sklav’rei ein Ende, / heilig die letzte Schlacht.»
Zu einem «letzten Gefecht» ruft bekanntlich auch der Text der «Internationale» auf. Dabei wird den «Arbeitsleuten in Stadt und Land» aber klargemacht: «Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun / Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun.»
Sonnenbaden am Meer
Viele der Erzählungen, die in den alten Arbeiterliedern anklingen, wurden in den vergangenen Jahrzehnten «zur Seite geschoben». Neue Sinnstiftungsversuche haben sie – einem vielfältigen Wandel folgend oder diesen fördernd – aus unserer Vorstellungswelt verdrängt. Mit Sonnenschein verbinden wir heute kaum mehr die Vorstellung eines anbrechenden Sozialismus.
Wenn der Begriff Sonne fällt, dann verbindet sich damit oft die Hoffnung auf nachhaltige Energie oder Sorgen wegen Dürrekatastrophen und zunehmender Trockenheit. Und ist von Sonne und Freiheit die Rede, dann dürften viele von uns Bilder von Ferien am Meer vor ihrem geistigen Auge sehen.