Die Internationale Jury der 62. Berlinale kürt etwas überraschend «Cesare deve morire» zum Siegerfilm. Der Beitrag der Schweizer Filmregisseurin Ursula Meier, «L’enfant d’en haut», erhält eine lobende Erwähnung.
Der Wettbewerb unter künstlerischen Leistungen ist eine ziemlich merkwürdige Angelegenheit. Denn wie soll die Verschiedenheit von kreativen Werken miteinander verglichen werden wie im Sport, wo es klare Regelsysteme und messbare Resultate gibt? Zumal eine Festivaljury anders als etwa die Massenbefragung unter Akademiemitgliedern, die der Oscar-Vergabe zugrunde liegt, sich aus acht subjektiven Geschmäckern zusammensetzt.
Prominent besetzte Jury
In Berlin hatte in diesem Jahr eine selten prominente Runde über die Hauptpreise zu entscheiden: der holländische Fotograf und Regisseur Anton Corbijn, der letztjährige Berlinale-Gewinner Asghar Farhadi aus Iran, die französische Sängerin und Schauspielerin Charlotte Gainsbourg, der amerikanische Schauspieler Jake Gyllenhaal, der französische Filmemacher François Ozon, der algerische Schriftsteller Boualem Sansal und die deutsche Schauspielerin Barbara Sukowa. Den Vorsitz führte der britische Regisseur Mike Leigh, von dessen eigenem, an sozialen Fragen interessiertem Oeuvre und dem in der Eröffnungspressekonferenz beherzt vorgetragenen Führungsanspruch man spekulativ auf eine Privilegierung von sozialrealistischen Stoffen schliessen konnte.
Umstrittener Gewinner
Den Goldenen Bär für den Besten Film gewann am Samstagabend der italienische Beitrag «Cesare deve morire (Caesar must die)» der Brüder Paolo und Vittorio Taviani. Der Film ist ein keineswegs unumstrittenes Hybrid aus Dokumentation und Fiktionalisierung: Schwerverbrecher proben in einem Gefängnis William Shakespeares Drama «Julius Cäsar», wobei der Übergang zwischen den Genres fliessend ist. Der Film dokumentiert den Probenprozess nicht, sondern verwandelt ihn selbst in eine Erzählung über die Interaktion der Gefangenen, die, in kontrastreichem Schwarzweiss gedreht, einen etwas altmodischen Kunstanspruch vor sich herträgt. Das Soziale besteht in «Cesare deve morire» im Projekt selbst; am Ende sagt einer der Verbrecher, durch die Kunst habe er erfahren, dass seine Zelle ein Gefängnis sei.
Heimlicher Favorit
Überraschend war diese Entscheidung der Jury, weil als Favorit der deutschen wie internationalen Filmkritik Christian Petzolds Film «Barbara» gegolten hatte. Darin geht es um eine Ärztin Anfang der achtziger Jahre in der DDR (dargestellt von Nina Hoss), die wegen eines Ausreiseantrags in den Westen zu ihrem Geliebten (Mark Waschke) sozial isoliert lebt und erst durch die enttäuschende Aussicht, künftig ein Leben als Hausfrau zu führen, ihre gesellschaftliche Verantwortung neu begreift. Petzold erhielt den Silbernen Bären für die Beste Regie, was angesichts seines entschiedenen, ökonomischen Stils zweifellos eine treffende Ehrung ist.
Filmnovelle über eine Roma-Familie
Der Grosse Preis der Jury ging an den ungarischen Beitrag «Csak a szél (Just the Wind)» von Bence Fliegauf. In der Logik der alljährlich wiederkehrenden Diskussionen um das eminent politische Profil der Berlinale als Unterscheidungskriterium zu den äußerlich sonnig-pittoreskeren A-Festivals in Cannes und Venedig wäre «Csak a szél» der nächstliegende Gewinner des Goldenen Bären gewesen. Fliegauf folgt in seiner Filmnovelle den Wegen einer Roma-Familie durch einen Tag, über dem die Drohung von Übergriffen der Mehrheitsbevölkerung liegt, die sich am Ende in einer Menschenjagd realisiert. Gerade vor dem Hintergrund der politischen Machtverhältnisse in Ungarn, dem Walten einer nationalistischen Politik, die mit einem Mob kalkuliert, wie Fliegauf ihn basierend auf wahren Begebenheiten zeigt, hätte der Goldene Bär ein deutlicheres Signal abgegeben als der Grosse Preis der Jury das womöglich tut. Ästhetisch betrachtet wählt „Csak a szél“ eine konsequente, aber auch etwas limitierte Form für seinen Stoff.
Ein guter Jahrgang
Bemerkenswert war die 62. Berlinale indes schon vor der Preisverleihung. Verglichen mit dem lauen Vorjahresprogramm zeigte sich der Wettbewerb in diesem Jahr deutlich verbessert, auch wenn etwa ein stolz präsentierter Darling aus Cannes und Venedig wie der philippinische Filmemacher Brillante Mendoza mit «Captive», der Geschichte einer langen Geiselnahme mit Isabelle Huppert, einen eher schwächeren Beitrag ablieferte.
Lob für den Schweizer Beitrag
Zu den Eigenheiten von Festivalehrungen gehört die Arithmetik der Verteilung, die möglichst vielen Beiträgen eine Ehrung zuteil werden lassen will; lediglich der dänische Historienfilm «En Kongelig Affaere (Die Königin und der Leibarzt)» wurde zweimal ausgezeichnet (Mikkel Boe Foelsgaard als Bester Darsteller und Nikolaj Arcel/Rasmus Heisterberg für das Beste Drehbuch). Für Ursula Meiers berührendes, präzises und von der Kritik ebenfalls als chancenreich erachtetes Sozialdrama «L’enfant d’en haut» resultierte aus diesen Rechenspielen eigens ein Sonderpreis.
Die Westschweizer Regisseurin erhielt eine Lobende Erwähnung samt Silbernem Bären. Das klingt nach einem Trostpreis. Aber die kurze Begründung dieser Ausnahme durch Mike Leigh, bei der schlussendlichen Preisvergabe einer Jury drohten jedes Mal exquisite Filme unbedacht zu bleiben, lässt sich auch anders verstehen – dass nämlich «L’enfant d’en haut» in den Gesprächen der Jury durchaus ein Kandidat für eine der höchsten Ehrungen gewesen ist.
Wie gesagt, Wettbewerbe unter künstlerischen Leistungen sind eine merkwürdige Angelegenheit.