In «Albert Anker reloaded» deckt der Comic-Artist Sambal Oelek mit Schützenhilfe von Architekturhistoriker Andreas Müller ein unglaubliches Komplott auf und interpretiert Werke des populären Schweizer Malers neu. Ein köstlicher Schabernack.
1854 gab Albert Anker seinem Leben eine neue Richtung: Er brach das Studium der Theologie ab und ging nach Paris, um sich dort als Maler ausbilden zu lassen. In der französischen Metropole wurde der 1831 im bernischen Ins geborene Sohn eines Tierarztes Schüler des waadtländischen Malers Charles Gleyre (1806–1874). Bald schon war Anker regelmässig mit Bildern im Pariser Salon, der bedeutendsten Ausstellung Frankreichs, vertreten. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1860 verbrachte Anker jeweils den Sommer im Elternhaus im bernischen Seeland und den Winter in Paris. 1890 zog er schliesslich ganz nach Ins, wo er bis zu seinem Tod im Sommer 1910 lebte.
Ankers Erfolg beim französischen Publikum, aber auch in der Schweiz, wo er zeitweise zu den populärsten Malern zählte, beruht im Wesentlichen auf seinen detailgetreuen Darstellungen von ländlichen Alltagsszenen seiner Berner Heimat. Mit ihnen gehört Anker zu jenen Künstlern, die bewusst den regionalen Charakter ihrer Motive betonten. Mit seiner Beschwörung des Landlebens kam er dem Bedürfnis eines städtischen Publikums nach Idylle in Zeiten eines sich beschleunigenden Wandels und sich verschärfender Konflikte entgegen. Allerdings vermittelt er lediglich ein ausschnitthaftes Bild des Landlebens. Wie die neuere Forschung deutlich gemacht hat, taucht vieles, was damals bestimmend war für die ländliche Gesellschaft, bei Anker gar nicht auf. Letzteres gilt natürlich erst recht für Ereignisse und Gegebenheiten der Welt ausserhalb des ländlichen Kosmos.
Mit diesem Befund haben sich Sambal Oelek und Andreas Müller nicht zufrieden geben. In «Albert Anker reloaded» präsentieren sie uns augenzwinkernd einen ganz anderen Albert Anker, dessen verdrängte Seite sozusagen. Diese spüren der Comic-Artist Oelek und der Architekturhistoriker Müller, der sich 2002 mit einer Biografie des «verbitterten Bundeshausarchitekten» Hans Wilhelm Auer hervorgetan hat, nicht mit hochspekulativen Bildanalysen in Ankers Werk auf. Nein, den «anderen» Anker dürfen wir anhand von 20 Pastellen entdecken. Dies verdanken wir in erster Linie Sambal Oelek, aber auch der Schützenhilfe von Müller und dem Einsatz der vormaligen Studentin der Kunstwissenschaften und jetzigen Primarlehrerin Thea Zumbusch.
Ein dubioser Herr Schwaendy
Besagte Pastelle, deren Bildinhalt nationalkonservative Kreise als subversiv und unerwünscht eingestuft haben, waren – dürfen wir Oelek und Müller Glauben schenken – bisher unter Verschluss gehalten worden. Drehscheibe dieses Anker-Komplotts ist eine Berner Familienstiftung. Diese tritt vor allem in Gestalt eines dubiosen Herrn Schwaendy in Erscheinung. Als Oelek und Müller herausfinden, dass Schwaendy hinter der Zerstörung des Bilds «Der Tod des Major Davel» von Charles Glyre steckt, das im August 1980 einem Brandanschlag zum Opfer fiel, sind sie aufs Höchste alarmiert. Denn der Grund für jenen Vandalenakt lässt auch für die Anker-Pastelle das Schlimmste fürchten: Glyre hatte in seinem «Tod des Major Davel» offenbar einige politische Anspielungen gemacht, die gewissen Kreisen derart missfielen, dass sie das Bild – 130 Jahre nach seiner Entstehung – zerstören liessen. Vor einem gleichen Schicksal wollen die beiden Amateurdetektive mit der Hilfe von Thea Zumbusch die Anker-Pastelle unbedingt bewahren. Glücklicherweise gelingt ihnen dies, wenn auch in letzter Sekunde.
Ein Blick auf die geretteten Werke macht deutlich, warum gewisse Kreise sie selbst um den Preis ihrer Zerstörung dem Publikum vorenthalten wollten. Diese Bilder lassen nämlich hinter der Ankerschen Idylle, wie sie uns vertraut ist, eine andere, weniger idyllische Welt erkennen. Hier begegnen uns bisweilen in fast surrealer Form dunkle Triebe, geheime Ängste und verdrängte Wünsche, über die in der gutbürgerlichen Stube nicht geredet werden soll.
Für die vorliegende Buchausgabe hat Müller die Werke sorgfältig katalogisiert. Neben einer knappen Interpretation findet man jeweils auch Reproduktionen jener seit Langem bekannten Werke, zu denen die Pastelle in einem inneren Zusammenhang stehen. Was jeweils zuerst war – das Pastell oder die ihm zugeordneten Anker-Bilder – bleibt allerdings im Dunkeln. Keine Antwort erhalten wir auch auf die Frage, unter welchen Umständen die 20 Pastelle entstanden sind, und welche Rolle – wenn überhaupt – der schwerreiche Anker-Sammler B. in Herrliberg beim Anker-Komplott gespielt hat.
Munition für die Spassguerilla?
Oelek und Müller setzen sich mit viel Witz und ohne falsche Ehrfurcht mit Albert Anker und seiner Zeit auseinander und erweisen so dem Inser Maler auf ihre Art die Reverenz. Auch an Selbstironie sparen die beiden älteren Herren nicht, die im 68er-Umfeld politisch sozialisiert wurden und sich nun im Laufe ihrer Ermittlungen auch über diverse Irrungen und Wirrungen von Teilen der Neuen Linken in jenen Tagen lustig machen.
Man kann in «Albert Anker reloaded» mit seinem Spiel mit abstrusen Verschwörungstheorien, historischen Realien und der speziellen Chemie zwischen den beiden Protagonisten Oelek und Müller natürlich in erster Linie ein Produkt des höheren Blödsinns sehen. Und doch darf die Frage gestellt werden: Versuchen hier nicht zwei Alt-Achtundsechziger der Spassguerilla Munition für den neuen Kulturkampf zu liefern? Die Bemerkung «Nicht dadurch, dass wir einzelne Bilder zerstören, sondern dass wir ihnen Gegenbilder entgegenstellen, brechen wir ihre Macht», die Müller gegenüber Schwaendy fallen lässt, scheint diese These jedenfalls zu stützen. Wie dem auch sei: Die von Sambal Oelek für dieses Buch durch Neukombination und Verfremdung von Motiven aus Werken von Albert Anker geschaffenen Pastelle sind auf jeden Fall kleine Juwelen.
- Sambal Oelek, Andreas Müller: Albert Anker Reloaded. Roman und Katalog. Rotpunktverlag, Zürich 2012. 216 Seiten, 49 Franken.