Albert Camus’ «Der Fremde» hinter einem gläsernen Vorhang

Der Roman «Der Fremde» von Albert Camus wird oft auf die Theaterbühne gebracht. Jetzt hat hat sich das Junge Haus des Theaters Basel an den berühmten existentialistischen Text herangewagt – und damit zumindest zu einem Teil gewonnen.

Der «Fremde» (Ilario Raschèr) im Glaskasten.

(Bild: Simon Hallström)

Der Roman «Der Fremde» von Albert Camus wird oft auf die Theaterbühne gebracht. Jetzt hat hat sich das Junge Haus des Theaters Basel an den berühmten existenzialistischen Text herangewagt – und damit zumindest zu einem Teil gewonnen.

Meursault, so heisst der Fremde im gleichnamigen Roman von Albert Camus, sitzt auf einer Bank, raucht Zigaretten und trinkt Milchkaffee. Dann folgen die lakonischen ersten Sätze, die bereits soviel über das Wesen dieses Menschen aussagen: «Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm: Mutter verschieden. Beisetzung morgen. Vorzügliche Hochachtung. Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern.»

Sogleich ist man mittendrin im Drama des kleinen Büroangestellten im von Frankreich besetzten Algerien, dessen Leben von der grossen Gleichgültigkeit geprägt ist. Gleichgültig nimmt er den Tod seiner Mutter hin. Gleichgültig gibt er sich seiner Geliebten hin, gleichgültig reagiert er auf die fünf tödlichen Schüsse, die er auf einen Araber am Strand abgibt.

Viele werden wieder mittendrin sein, weil «Der Fremde» zumindest früher zur Pflichtlektüre in der Schule gehörte. Im Französischunterricht oder in Deutsch. Wenn man den Roman nicht gelesen hat (was man aber getan haben sollte), hat man vielleicht den Film von Lucchino Visconti gesehen oder eine der vielen Dramatisierungen. Etwa die von Werner Düggelin vor acht Jahren, ebenfalls in Basel.

Hinter transparenten Masken

In der aktuellen Produktion des Jungen Hauses auf der Kleinen Bühne sind es zu Beginn zwei Meursaults, die auf der Bank sitzen. Ihre Gesichter stecken hinter transparenten Plastikmasken. Was will uns Regisseur Patrick Gusset damit sagen? Vielleicht, dass dieser Meursault die Aussenwelt nicht richtig an sich heranlässt. Oder ist es Sinnbild für die gläserne Wand, die Camus in der Einschätzung seines grossen Gegenspielers Jean-Paul Sartre zwischen die Figuren seines Romans und die Leser gesetzt hat?

Die Bühne von Chasper Bertschinger setzt dieses Bild eins zu eins um: Ein Glaskasten im Zuschauerraum hält die Gesprächspartner der Hauptfigur auf Distanz, und ein Glaskasten auf der Bühne dient als Gefängnis- beziehungsweise Todeszelle für Meursault.

Viele Figuren auf der Bühne

Altmeister Werner Düggelin hatte das Personal seiner Bühnenadaption auf zwei Figuren eingedampft und die Inszenierung sehr auf den Text konzentriert. Gusset geht einen anderen Weg. Er bevölkert das Geschehen mit zahlreichen Nebenfiguren: Solche, die man aus dem Roman kennt und auch eine für die Handlung massgebliche Rolle spielen, aber auch andere, die man nicht so leicht erkennt.

Zu diesen gehören zwei Frauen, die sich in hautengen Schlangenhäuten tänzerisch über die Bühne wälzen. Über die Symbolik dieser Einsprengsel kann man viel spekulieren. Ist es Meursaults Hingabe zu den sexuellen Reizen seiner Geliebten Marie? Sind es die Windungen der Gedanken, die stets in die Gleichgültigkeit gegenüber den Mitmenschen münden? Dass die beiden Frauen im Programmheft als Meursault VI, Oberaufseherinnen und Araber I bezeichnet werden, bringt einen nicht weiter. Eher schon die aufgesplittete Bezeichnung «Sisi-phos», womit auf Camus’ Essay über den «Mythos des Sisyphos» angespielt wird.

Überladene Szenerie

So eindrücklich und einnehmend die tänzerischen Einlagen der beiden Frauen (Johanna Heusser und Dina Sennheuser) sind, so sind sie auch Zeichen für eine der Schwächen der Inszenierung. Gusset hat sie überladen. Wie auf einen Slalomkurs springt das Geschehen zwischen naturalistischen und sinnbildlichen Momenten hin und her. Das erschwert die Konzentration auf den Kern des Textes, nämlich auf die Illusionslosigkeit des Seins.

Wenn hier das Zuviel an Personal bedauert wird, so muss auf der anderen Seite betont werden, dass die Spiellust und das engagierte Auftreten des jungen Ensembles grosse Freude bereitet. Ilario Raschèr als Meursault, Sophie Eglin als Marie und die weiteren Mitspielerinnen und Mitspieler des Jungen Hauses (Joris Mudwyler, Birkan Çam, Marin Blülle, Anna Sonnenschein und Tino Zihlmann) präsentieren sich auf der Kleinen Bühne in höchster Konzentration und eindrücklicher Professionalität. Die Tatsache, dass es Laiendarsteller sind, geht sehr schnell vergessen.

Aber vielleicht hat Gusset ja auch recht, wenn er das Geschehen auf der Bühne abwechslungsreich gestaltet und mit Action auflädt. Das vornehmlich junge Publikum zeigte sich von der Leistung des ebenso jungen Ensembles begeistert. Und hat so einen Zugang zum tiefsinnigen Denken des philosophischen Autors Camus gefunden.
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«Der Fremde» von Albert Camus. Theater Basel, Junges Haus, Kleinen Bühne. Weitere Vorstellungen: 18., 19., 28., 29. Januar und 3. Februar

 

 

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