Albtraumhafter Tiefen-Psychothriller auf der Opernbühne

Simon Stone setzt in seinem Debut als Opernregisseur Erich Wolfgang Korngolds Musiktheater-Brocken «Die tote Stadt» als minutiös gewebten Tiefen-Psychothriller in Szene. Und kann sich dabei auf ein herausragendes aufspielendes Ensemble verlassen, was vom Basler Premierenpublikum mit Begeisterung aufgenommen wurde.

Im Albtraum verschieben sich die Perspektiven.

(Bild: Sandra Then)

Simon Stone setzt in seinem Debut als Opernregisseur Erich Wolfgang Korngolds Musiktheater-Brocken «Die tote Stadt» als minutiös gewebten Tiefen-Psychothriller in Szene. Und kann sich dabei auf ein herausragendes aufspielendes Ensemble verlassen, was vom Basler Premierenpublikum mit Begeisterung aufgenommen wurde.

Paul hat ein gewaltiges Problem. Nach dem Tod seiner über alles geliebten Ehefrau Marie hat er sich in der sterbenden oder bereits toten Stadt Brügge in eine Wohnung zurückgezogen, in der nur noch die Erinnerung an die Verstorbene lebt. Zentrum der Behausung ist eine Erinnerungskammer – «Die Kirche des Gewesenen» –, deren Wände mit Polaroidfotos von Marie vollgepflastert sind. Und in der ein Altar aufgebaut ist mit den Haaren der alles bestimmenden Toten und anderen Erinnerungsstücken, die nur mit Gummihandschuhen berührt werden dürfen, weil sonst die Aura des Gewesenen in Mitleidenschaft geraten könnte.

Erfunden hat diese Figur der belgische Symbolist Georges Rodenbach in seinem Roman «Das tote Brügge». Der Komponist Erich Wolfgang Korngold hat diese schaurige Geschichte, die von seinem Vater Paul Schott zum Libretto verarbeitet wurde, 1920 zur Oper «Die tote Stadt» verarbeitet.

Ein seltsames Musikkonstrukt

Erich Wolfgang was? Korngold gehört nun gewiss nicht zu den populären Namen des Opernrepertoires. Das war in den 1920er-Jahren, als die Oper entstand, ganz anders. «Die tote Stadt» des damals gerade mal 23-jährigen Komponisten wurde flugs zum Hit, der an allen grossen Opernhäusern aufgeführt wurde. Geriet dann aber mit dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit. Der Jude Korngold musste aus Wien in die USA fliehen. Dort arbeitete er für die Filmindustrie in Hollywood, wo er sich als Pionier der sinfonischen Filmmusik verdient machte.

Seit einigen Jahren gilt Korngold und vor allem seine «Tote Stadt» als Wiederentdeckung. Es ist ein schwieriges Stück, das von den Protagonisten und dem grossen Orchester einiges abverlangt. Und auch von den Zuhörern. Nicht weil Korngold sich der Zweiten Wiener Schule von Arnold Schönberg angeschlossen hätte, mit der die Musik radikal erneuert wurde.

Korngold hielt an der harmonischen Spätromantik fest. Es ist ein rauschhafter und seltsamer Musikschwall, der zwischen gefühlsschwangerem Pathos am Rande des Kitsches und hochdramatischen Momenten hin- und herpendelt. Manchmal hört man Richard Strauss heraus, zuweilen etwas Operette, und wenn man die Augen schliesst, taucht vielleicht der Pfeilbogen von Robin Hood auf – für den gleichnamigen Hollywoodfilm von Tony Curtiz hat Korngold später die Musik geschrieben.

Tragödie auf tiefenpsychologische Ansage …

Dieser Mix ist vielleicht gewöhnungsbedürftig. Aber sie bildet letztlich auf treffende Art die überschwänglichen Gefühlswelten der Protagonisten ab, die in der Geschichte einen Albtraum durchleben. Paul trifft auf die Revuetänzerin Marietta, die seiner allgegenwärtigen verstorbenen Frau sehr ähnlich sieht. Er fühlt sich entsprechend zu ihr hingezogen, aber nicht zur lebenden und lebenslustigen Person selbst, sondern zur fleischgewordenen Erinnerung an die Verstorbenen.

Das kann natürlich nicht gut gehen. Weil sich Marietta an den Erinnerungsstücken der Verstorbenen vergeht, erdrosselt er sie. Mit den Haaren der Verstorbenen. Eine Tragödie auf tiefenpsychologische Ansage.

… wird zum Psychothriller

Da schimmert natürlich die Tiefenpsychologie Sigmund Freuds durch, der zur selben Zeit in Wien lebte und arbeitete wie Korngold. Aber das Unterbewusstsein tritt hier sehr an die Oberfläche, wenn auch in einem Traum, den wir aus dem Blickwinkel Pauls miterleben. Und der nach dem Mord den Weg zu einem zumindest oberflächlichen Happy End eröffnet.

Regisseur Simon Stone bringt nun zusammen mit Bühnenbildner Ralph Myers und Kostümbildnerin Mel Page keine surrealistischen Traumbilder auf die Bühne, sondern bleibt bei einer realistischen Bildwelt, die sich im Traum aber aus den Angeln hebt. Das wird im wunderbaren Bühnenbild und der Lichtregie ersichtlich: Auf der rege bewegten Drehbühne steht Pauls gestylt eingerichtete Wohnung, die im Verlauf der Traumsequenz in Bewegung gerät, auseinanderdriftet und sich übereinander stapelt.

Pauls beengte Welt gerät durch Marietta gehörig und im wahrsten Sinne des Wortes durcheinander. Die Bühnentechnik im Hintergrund leistet dabei Ausserordentliches.

Perfekte Personenführung

Stone schafft in seiner Inszenierung ohne aufgesetzte tiefenpsychologische Symbole ein packendes Panoptikum der Gefühlswelten und Aktionselementen, das vor allem durch eine stringente Personenführung besticht. Alles ist in Bewegung, alles fliesst ohne Bruch ineinander über in einen Psychothriller, der einen von Beginn bis zum Schluss ohne Spannungsabfall packt. Dies gilt für die leidenschaftlichen und leiderfüllten Zweierszenen ebenso, wie für die rauschenden Party von Mariettas Gauklertruppe und die religiöse Prozession mit grossem Chor und Kinderchor, die hier wie zombieartige Doppelgänger von Paul und Marie durch das Gehirn des Träumenden wandeln.

Stone hat das Glück, dass ihm dabei Sängerinnen und Sänger zur Verfügung stehen, dessen Spiel aus dem pathetischen Musikschwall heraus absolut glaubwürdig erscheint. Allen voran ist den beiden Hauptdarstellern Rolf Romei als Paul und Helena Juntunen als Marie/Marietta eine grosse schauspielerische Leistung zu attestieren. Auch gesanglich meistern die beiden die monströsen Partien herausragend – auch wenn Romei in der Anfangsphase ein paar Verrutscher in den hohen Tönen überwinden muss.

Ein gefeierter Einstand



Helena Juntunen und Rolf Romei glänzen in den Mosterpartien von Marietta/Marie und Paul in Erich Wolfgang Korngolds Oper «Die tote Stadt».

Helena Juntunen und Rolf Romei glänzen in den Mosterpartien von Marietta/Marie und Paul in Erich Wolfgang Korngolds Oper «Die tote Stadt». (Bild: Sandra Then)

Das Premierenpublikum feierte die beiden Hauptdarsteller mit viel Applaus und Bravorufen. Ebenso das künstlerische Letungsteam um Simon Stone, der seine erste Oper inszeniert hat. Und den Musikalischen Leiter des Abends, Erik Nielson, der am Pult des engagiert und präzise aufspielenden grossen Sinfonieorchesters Basel einen tollen Einstand als neuer Musikdirektor des Theater Basel hatte.

Zurecht mit viel Applaus bedacht wurden auch die Nebendarsteller Eve-Maude Hubeaux, Sebastian Wartig, Karl-Heinz Brandt und die drei Mitglieder des Nachwuchs-Opernstudions «OperAvenir» Ye Eun Choi, Sofia Pavone und Nathan Haller. Sowie der Theaterchor, der zusammen mit der Knaben- und Mädchenkantorei einen kurzen, aber eindrücklichen Auftritt hatte.

Bei einer Aufführung dieser Qualität bleibt schliesslich die Frage, ob Korngolds Musik wirklich so gut ist, dass man sie fast hundert Jahre nach ihrer Entstehung wieder aufführen muss, obsolet. Als kleiner Wermutstropfen bleibt lediglich die Aussicht, dass Hausregisseur Simon Stone nach diesem Operneinstand in der laufenden Spielzeit nur noch ein Schauspiel inszenieren wird.

Theater Basel: «Die tote Stadt» von Erich Wolfgang Korngold. Die nächsten Aufführungen: 20. und 23. September und weitere Vorstellungen bis 19. Dezember.

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