Sie emigrierte nach Argentinien und wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer der bedeutendsten literarischen Stimmen Lateinamerikas. Bei uns aber hat kaum jemand je von Alfonsina Storni gehört. Nun legt ein sorgfältig herausgegebener Band eine Auswahl ihres vielseitigen literarischen Werks erstmals auf Deutsch vor.
Sie sei im argentinischen Mar del Plata ruhig ins Meer gegangen und ertrunken, sagt der Mythos. Sie habe sich von der Mole gestürzt, sagen die Biographen. Alfonsina Storni, 1892 im Tessin geboren und vier Jahre später mit ihrer Familie nach Argentinien emigriert, ist in Europa höchstens für ihren Tod bekannt, besungen in dem durch Mercedes Sosa berühmt gewordenen Lied «Alfonsina y el mar».
Im deutschsprachigen Raum war Alfonsina Storni (1892-1938), eine der bedeutendsten literarischen Stimmen Lateinamerikas, bisher nur einigen wenigen als Lyrikerin bekannt. Sie war aber auch Feuilletonistin, Grossstadtreporterin, Theaterregisseurin, Deklamationsdozentin und unermüdliche Gesellschaftskritikerin.
Sie beklagte die Ungleichheit der Geschlechterrollen
Das von der Literaturwissenschafterin Hildegard Elisabeth Keller herausgegebene Buch «Meine Seele hat kein Geschlecht» macht erstmals eine breite Auswahl an Texten aus der Zeit zwischen 1919 und 1938 auf Deutsch zugänglich. Keller hat Erzählungen, Essays, Kolumnen und Gedichte aufgestöbert, ausgewählt und auch gleich selber erstmals oder neu übersetzt. Angesichts der breiten Auswahl erstaunt, dass kein einziger dramatischer Text der theaterinteressierten Autorin vorkommt.
Ähnlich wie Virginia Woolf, mit der sie auch die Art ihres Todes und ihre literarischen Experimente verbinden, hinterfragt Storni soziale Konventionen, beklagt die Ungleichheit der Geschlechterrollen, reflektierte das Problemfeld Frau und Beruf und kritisiert die romantische Idealisierung der Ehe. In typisch bissigem Ton meint sie etwa: «Es wäre ein grosser Vorteil für die Frau, wenn sie in der Gewissheit heiraten würde, dass sie einen Kampf gegen einen möglichen Feind aufnehmen muss.»
In scharfzüngigen Miniatur-Sozialstudien analysiert sie die Menschengruppen, die vor den Kirchen in Buenos Aires auf die Brautpaare warten und kategorisiert Frauen anhand der Zeitschriften, die sie auf der U-Bahn lesen. Sie gibt ein Rezept für «das perfekte Bürofräulein», das «reichlich Rechtschreibfehler», blondiertes Haar und «einen kleinen Lohn» beinhaltet. Und sie kritisiert Frauen, die den Feminismus «verfälschen», in dem sie sich in einflussreichen Positionen wie konventionell angepasste Damen benehmen.
Sie machte sich stark für die Selbstbestimmung von Frauen
«Unzählige Male hat mich mein Frausein im Milieu, in dem ich mich bewege, gestört,» schreibt Storni, die unverheiratete, alleinerziehende Mutter. Sie bedauert, dass sich das Leben vieler Frauen in die Welt aufspaltet «die sie sich ausgemalt haben, und die, in der sie leben.» Sie sagt, die grossen Schritte, die Hosen ermöglichen, würden sie ruhiger machen. Und sie schrieb ihre stärksten Kolumnen für die Zeitung «La Nación» unter dem männlichen Pseudonym Tao Lao.
In einer dieser Kolumnen zählt sie die Anzahl Bewegungen auf, «die nötig sind, um auf der Strasse eine makellose Erscheinung zu bewahren»: dazu gehören 30 Mal «Befeuchtung der Lippen», 60 Mal «Selbstbetrachtung in Schaufenstern», 12 Mal «Zupfen an den Handschuhen» und 50 Mal «Unvorhergesehenes bezüglich Handtasche, Kragen, Falten etc.» Für diese «Makellosen» hegt die Autorin dieselbe Verachtung wie für die vielen Gesichtslosen, die «keine einzige Idee mit Festigkeit vertreten» und sich «dank ihrer Gefühlsarmut in jeder beliebigen sozialen Schicht eingerichtet haben.»
Immer wieder kommen denn auch Puppen vor – ein Mädchen mit angemaltem Gesicht; Schaufensterpuppen mit steifen Fusssohlen; und in der surreal unheimlichen Erzählung «Cuca» eine Frau, die sich vor den Augen eines verwirrten Verehrers als mit Sägemehl gefüllte Porzellanpuppe enthüllt. Überhaupt spielt Storni gerne mit der Vermischung von belebt und unbelebt: Frauen werden als Objekte beschrieben, während ein Lift «die Sprache der Schuhsohlen gelernt» hat, Papier sich über Primarlehrerinnen beklagt und ein Wollkostüm als Ich-Erzähler den Alltag einer Blondine schildert.
Sie lebte wie eine Distel im Wind, ohne Schutz
Hinter literarischen Spielereien, stilistischen Experimenten und bissiger Ironie pulsiert eine widerspenstige Kraft, eine grosse Direktheit, eine zitternde Sensibilität. «Ich goss die heisse Karaffe meiner Brust aus», schreibt Storni in ihrem Gedicht «Das Wort». Dieses Heisse, Innerste durchströmt ihre Lyrik und lässt das Leiden aufblitzen, das ihr ihre Dringlichkeit gibt. Wenn sie sagt, sie habe gelebt wie eine Distel im Wind, ohne Schutz. Sie sei lebensmüde, aber habe noch nicht genug verstanden von dem, was sie umgebe. Oder wenn sie sich «die traurige Frau» nennt, «der Charon schon sein Ruder gezeigt hat.»
In einem Vorwort zu einem ihrer Lyrikbände – dieses Vorwort beschliesst originellerweise Kellers Buch – sagte Storni, die Zeit entscheide, welche Texte bestehen: «Sie lässt Schaufeln voller Erde darauf fallen, und das ist recht so.» Und in ihrem Gedicht «Demut» schrieb sie, eines Tages werde «die Zerstörende Gestalt» ihren Namen «mit einem müden Pusten wegblasen ins Vergessen.» Es ist Hildegard Elisabeth Kellers grosses Verdienst, dass wir Alfonsina Stornis eigenwilliges, poetisches, kraftvolles Werk, souverän übersetzt, noch kennenlernen können, bevor es ins Vergessen geblasen wird.