Alice, ein viktorianischer Punk im Wunderland

1865 wurde es geschrieben, seither findet man «Alice’s Adventures in Wonderland» in Kinderzimmern auf der ganzen Welt. Am 26. November feiert die Buchheldin ihren 150. Geburtstag. Zeit für einen eigenen Rundgang im Wunderland.

Wichtige Lektion für Alice: Schreit das Baby auch noch so sehr, Platz für eine weitere Prise Pfeffer ist immer! Auf ihrer Reise trifft sie die guten, die bösen und vor allem die absurden Bewohner des Wunderlandes.

(Bild: BRITISH LIBRARY / SCIENCE PHOTO)

1865 wurde es geschrieben, seither findet man «Alice’s Adventures in Wonderland» in Kinderzimmern auf der ganzen Welt. Am 26. November feiert die Buchheldin ihren 150. Geburtstag. Zeit für einen eigenen Rundgang im Wunderland.

150 Jahre alt wird Alice diesen November, die Heldin des Kinderbuch-Klassikers «Alice’s Adventures in Wonderland» und dessen Fortsetzung «Through the Looking Glass». Anthropomorphe Tiere und viel Nonsens verhalfen der Geschichte zu zeitlosem Erfolg bei jungen Lesern, Wortwitz und Doppeldeutigkeit unterhalten bis heute die Erwachsenen. Seit seiner Erstausgabe am 26. November 1865 befindet sich das Buch ununterbrochen im Druck. Schriftsteller, Musiker und Maler liessen sich von Lewis Carrolls surrealer Parabel auf das Leben inspirieren und schufen Werke in Anlehnung an «Alice im Wunderland». Das Kindermärchen wird neben der Bibel und den Werken Shakespeares als das meistzitierte Buch der Welt gehandelt. 

Ab in den Bau

Angefangen hat alles an einem Sommernachmittag in Oxford, genauer genommen am 4. Juli 1862. Charles Dodgson unternahm einen Ausflug mit den Kindern seines Freundes Henry Liddell. Dessen Kinder Lorina, Edith und Alice sassen mit dem Familienfreund in einem Boot, und während er sie den Fluss hinaufruderte, erzählte er ihnen eine Geschichte, um die Zeit zu vertreiben. Er erzählte den Kindern die Geschichte von Alice und ihren Abenteuern im Wunderland.

Die wahre Alice, fotografiert von Lewis Carroll. Eine Freundschaft, die später für viel Zündstoff sorgen würde.

Die wahre Alice, fotografiert von Lewis Carroll. Eine Freundschaft, die später für viel Zündstoff sorgte.

Begeistert von der Erzählung bat Alice Liddell Dodgson, die Geschichte doch aufzuschreiben. Sie hätte gerne noch mehr gehört, nachdem der Nachmittag vorbei war. Sie sollte ihren Willen bekommen. Zwei Jahre später schenkte er ihr zu Weihnachten ein gebundenes Buch mit Illustrationen, in denen sie die Abenteuer von Alice nachlesen konnte.

Die junge Alice schläft eines Nachmittags gelangweilt neben ihrer Schwester ein, die ein Buch liest, «ohne Konversationen oder Bilder», und wozu soll so ein Buch schon taugen? Darauf folgt Alices Fall durch einen Kaninchenbau in eine Traumwelt hinab, wo alle verrückt scheinen. Sie trifft auf wunderliche Gestalten, wird Teilnehmerin an einer verrückten Teeparty und einem nicht minder wahnsinnig erscheinenden Cricketspiel und muss sich zuletzt der tyrannischen Herzkönigin stellen, die wegen ihrer ausgesprochen niedrigen Frustrationstoleranz rasch einmal zur Enthauptung ihrer Untertanen aufruft.

Seelenklempner, Drogenenthusiast oder doch pädophil?

Um die Identität der «echten» Alice wurde nie ein Geheimnis gemacht. «Alice in Wonderland» sowie die Fortsetzung «Through the Looking Glass waren Alice Lidell gewidmet, der Geburtstag von Liddell und der Protagonistin im Buch stimmen überein, die beiden Alices sind gleich alt. Was Wissenschaftler und Journalisten hingegen schon lange beschäftigt, sind etwaige versteckte Botschaften im Buch und das Verhältnis von Dodgson zu Alice.

Dodgson war Mathematiklehrer am Christ Church College in Oxford. Dort lernte er die auf dem Gelände wohnhafte Familie des Dekans Henry Liddell kennen und blieb jahrelang in engem Kontakt mit ihr. Neben seiner Karriere als Mathematiker war Dodgson unter seinem Pseudonym Lewis Carroll als Autor tätig, zeichnete und fotografierte. Seine vielen Bekanntschaften mit Kindern liessen im späten 20. Jahrhundert Fragen zu seiner Sexualität aufkommen.

Er wurde, wie seine Bücher, über die Jahre hinweg unter der ständig wechselnden Linse der Populärwissenschaft betrachtet und auseinandergenommen. In den Dreissigerjahren versuchten sich Psychoanalytiker am Stoff und zerpsychologisierten das Stück mit einer Sorgfalt, dass Sigmund Freud Freudentränen in die Augen geschossen wären. In den Sechzigern kamen die LSD-Enthusiasten, welche im Buch Hinweise auf einen Opiumkonsum Carrolls zu erkennen glaubten und in den Neunzigern wurde mit der Untersuchung begonnen, ob Carroll pädophil gewesen sei. Eine Frage, die Historiker und Literaturforscher heute spaltet, wie eine aktuelle Dokumentation des BBC zeigt.

Unsterbliche Alice

Dodgson hat seiner Inspiration Alice Liddell zu Lebzeiten ein Denkmal geschaffen. Viele Künstler taten dies für seine Wunderland-Bücher. Sie inspirierten literarische Werke wie James Joyces «Ulysses», politische Parodien, Disney-Filme bis zur bildenden Kunst: Salvador Dalí malte eine von «Alice» inspirierte Serie von Illustrationen.

In den Sechzigern und Siebzigern erlebte der Stoff in der Psychedelic-Music-Szene erneut ein Comeback:

Das Wunderland ist auch Medizinern ein Begriff. Das Alice-im-Wunderland-Syndrom (AWLS) bezeichnet ein harmloses neurologisches Phänomen, welches zu vorübergehenden Wahrnehmungsstörungen führt. Es tritt bei extremer Übermüdung, Migräneanfällen – oder Acid-Flashbacks – auf und kann das Gefühl für Distanz, Zeit und Grösse von Objekten beeinträchtigen. Dinge erscheinen viel grösser oder kleiner, als sie es in Wirklichkeit sind. Nach einer Weile verschwinden die Symptome von selbst wieder. Wer ausprobieren möchte, wie sich das anfühlt, kann einmal versuchen ein paar Schritte in der Wohnung zu gehen, während er durch einen umgekehrten Feldstecher schaut. 

Alice, der intellektuelle Punk

Woran liegts, dass der «Alice»-Stoff bis heute nichts an Faszination eingebüsst hat? Der Grund dafür liegt bei der Protagonistin selbst. «But if I’m not the same, the next question is, who in the world am I?», wundert sich Alice nach ihrer Ankunft im Wunderland. «Wer bin ich?» Eine Frage, deren Antwort Menschen seit der Existenz der Zivilisation beschäftigt. Wir alle sind ein wenig wie Alice: Die Frage nach der wahren Identität und dem Platz in einer scheinbar verrückt gewordenen Welt, mit teilweise absurden Gesetzen, taucht im Kindesalter auf und lässt sich nicht beantworten, indem man zu allem, was die Erwachsenen sagen, brav lächelt und mit dem Kopf nickt.

Während die Bewohner des Wunderlandes ständig Zweifel an Alices psychischer Gesundheit äussern, lässt diese sich nicht beirren und stellt weiterhin alles und jeden, der ihr begegnet, infrage. Für viktorianische Standards eine doch eher unhöfliche Eigenschaft, zeigt sie doch, dass Alice die Erwachsenen, mit denen sie im Wunderland zu tun hat, nicht automatisch als intellektuell überlegen und kompetent akzeptiert.

Alice ist eine Rebellin, jedoch nicht frech und ungestüm, wie die ungezogenen Bälger in der Horrorpädagogik der Struwwelpeter-Bücher für unartige Kinder. Alice ist stets sehr auf ihre Manieren bedacht, ihre Rebellion vollzieht sich auf intellektueller Ebene: Eine viktorianische Skeptikerin, ein wissbegieriges Kind, das pausenlos hinterfragt.

150 Jahre, nachdem Alice ihre Reise den Kaninchenbau hinab ins Wunderland angetreten hat, stiefelt sie immer noch im Untergrund herum und fordert uns mit ihrer Fragerei heraus, allgemein akzeptierte Wahrheiten und Regeln zu hinterfragen. Ihr Geburtstag wäre eine schöne Gelegenheit, das «Alice»-Buch aufzuschlagen und ihr einen Besuch abzustatten.

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