Als Nachtisch ein zeitloser Songzyklus

27 Jahre nach der Veröffentlichung seines Meilensteins «So» lud Peter Gabriel in Stuttgart zum dreiteiligen Konzertmenü und begeisterte die ausverkaufte Schleyerhalle.

«So»! Der singende Jedi-Ritter Peter Gabriel zeigt uns auch mit 63 Jahren noch, wie es geht. (Bild: Keystone)

27 Jahre nach der Veröffentlichung seines Meilensteins «So» lud Peter Gabriel in Stuttgart zum dreiteiligen Konzertmenü und begeisterte die ausverkaufte Schleyerhalle.

Man könnte die Popmusik der Siebziger und Achtziger in gewisser Weise als die Klassik des 21. Jahrhunderts bezeichnen. Nicht nur, weil alternde Stars von Joni Mitchell über Sting bis Peter Gabriel ihrem Songkatalog einen orchestralen Mantel umlegen. Es wird immer beliebter, die Meilenstein-Alben von einst auf der Bühne im Komplettdurchgang zu spielen. Als fest in den Kanon der Popgeschichte eingeschriebene Werke werden sie nun wie Symphonien in klassischen Konzerten kredenzt.

Wenige andere Werke der Pophistorie bieten sich zu einer solchen «Wiederaufnahme» derart an wie Peter Gabriels Werk «So» von 1986. Es definierte einen neuen Schritt in seiner Karriere, weg vom Progpop, hin zum packenden Mainstream. Ein weisser Musiker zeigte, wie sich kantiger Achtzigersound, Soul, Funk, Ballade, Gospel und Worldmusic zu einem zeitlosen Zyklus verknüpfen liessen, und war auf diese Weise auch ohne die elektronischen Experimente der Vorgängeralben immer noch «cutting edge».

Ouvertüre im Wohnzimmer

27 Jahre später muss Peter Gabriel nicht mehr darauf bedacht sein, an der Speerspitze des Pop zu siedeln. In der ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle setzt er sich im weiten, schwarzen Funktions-Hoodie erstmal gemütlich ans Piano. Auch das wird Klassikkonzertgängern bekannt vorkommen: Ein dreiteiliges Menü mit Vorspeise, Hauptgang und Dessert kündigt er an. Er tut das in seinem hellen, überakzentuierten Deutsch – und man muss sofort an die zwei deutschen Alben denken, die er veröffentlicht hat. Ganz im Zeitgeist der TV-Noir-Ära wird die Ouvertüre seines Auftritts zum Wohnzimmerkonzert, sogar das Saallicht bleibt an. Gut gelaunt unterstützen ihn die Weggefährten von einst, Tony Levin am Bass, Manu Katché an den Drums, David Sancious an den Keyboards und David Rhodes an der Gitarre. Jugendlich konterkariert wird die hohe Glatzendichte auf der Bühne von den beiden Schwedinnen Jennie Abrahamson und Linnea Olsson, Gabriels neuem, fast zu ätherischem Backgroundchor.


(«Come talk to me» live, ca. 1993)

Es spricht für die Güte der Songs, dass sie auch in diesem akustischen Kontext begeistern: «Come Talk To Me» ertönt zu einem Shanty-haften Akkordeon, das einst rasierklingenscharfe «Shock The Monkey» sendet auch noch zur Lagerfeuergitarre seine Pfeile aus. Und in einem neuen, noch unbetitelten Song im Stil des melancholischen «Here Comes The Flood» offenbart der 63-Jährige, dass seine Stimme immer noch diese unschlagbare Kombination aus Reibeisen und Verletzlichkeit besitzt, ein wenig knödeliger vielleicht als früher, ein bisschen bauchiger.

Hauptgang in alter Härte

Doch dann gehen die Lichter aus, mitten in der packend gespielten Mini-Popoper «Family Snapshot», und man wird zurückgebeamt. «Digging In The Dirt» präsentiert die Band in alter Härte zum Stroboskopgewitter, und David Rhodes lässt seine Elektrische monströs kreischen. Wie glubschäugige Aliens fahren die Scheinwerfer zu «No Self Control» hernieder, bei «The Family & The Fishing Net», jenem amorphen Wave-Stück, erinnern die verrieselten Zerrbilder auf den Monitoren an die Experimentalphase Gabriels. Der nun freilich nicht mehr auf den Brettern herumtobt, auch nicht mehr kopfüber in einem Globus wandert wie noch bei der letzten Welttournee, sondern gemessenen Schrittes umhergeht, wie es sich für einen Mann gehört, der dem weisen Obi Wan Kenobi aus Star Wars immer ähnlicher wird. Nur zu den triumphalen Akkorden von «Solsbury Hill» joggt er ein wenig im Kreis.

Endlich, das «So»-Dessert, und es gerät zum Hauptgang: Atemberaubend, wie die Wall Of Sound in «Red Rain» in die Gehörgänge drückt, mit dieser apokalyptischen Stimme eines röhrenden Leviathans und dem aufbrausenden Bass Levins. Grossartig, wie der «Sledgehammer», die beste weisse Soulhymne aller Zeiten, mit Katchés knackigen Drums auf die Halle niedersaust. Irritierend dagegen, dass Jennie Abrahamsons kindliche Vocals in «Don’t Give Up» die Trostwirkung einer Kate Bush nicht wiedergeben können.

Nachtisch mit grosser Werktreue

Wenige Eingriffe in die Originalversionen gibt es, doch die sind gelungen: «That Voice Again» und «Mercy Street» werden acappella eingezählt, und im violetten Nebel singt Gabriel am Boden liegend, wie ein träumendes Kind. Danach scheint er tatsächlich erschöpft: In «Big Time», in dem die Orgel leider den unwiderstehlichen Funkgroove überdeckt, bleibt ihm die Stimme weg. Erst im Finale, der im Original gespielten Liebeshymne «In Your Eyes» bäumt er sich im Duett mit Abrahamson nochmals auf.

Am Schluss bleibt die Erkenntnis: Bei wahren Meisterwerken ist auch im Pop grosse Werktreue eine hohe Tugend, ganz wie in der Klassik. Als die zufriedenen 15’000 die Halle verlassen, tönt Beethovens «Pastorale» aus den Boxen.

(«Mercy Street» live)

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