Teil 7 unserer Sommer-Slam-Serie bestreitet Lars Ruppel. Die vom Berner Vorgänger Matto Kämpf hinterlassenen Worte «Zahnarzt», «Bratwurst» und «Mischwald» baute der Marburger problemlos ein, das «Velo» deutschte er zu «Fahrrad» ein. Nur das «Himmugüegeli» stellte ihn auf eine wirkliche harte Probe, wie sein Text zeigt.
Väter müssen das Auto packen und alles bezahlen. Die einzigen Privilegien, die sie dafür bekommen, sind das Kopfende des Tisches und Fernsehschauen sogar im Urlaub. Ich sass bereits am Morgen des Abreisetages im Auto und beobachtete meine Eltern durch den Rückspiegel auf der Fahrerseite beim Beladen des Autos. Das heißt, meine Mutter stellte unser Gepäck vor das Auto und mein Vater verstaute es im Kofferraum.
Packen ist ein Handwerk, dachte ich, vielleicht aber auch eine Kunstform, die dem Künstler körperlich viel abverlangte. Sicher würde mein Vater auch mich irgendwann in die geheimnisvolle Welt des Kofferraumes einweihen. Er machte dabei ein Gesicht wie beim Zahnarzt, nur, dass er den Mund nicht geöffnet hatte, also eher wie beim Zahnarzt nach der Behandlung, wenn man endlich den Mund wieder schließen durfte. Auf seiner braungebrannten Stirn glänzte der Schweiß in den letzten Sonnenstrahlen unseres Urlaubs. Ich fand Packen scheiße und boykottierte diesen erniedrigenden Vorgang. Sich für die Abreise vom Urlaub zu engagieren, das ist doch als liesse man einen Todeskandidaten selbst das Gift für seine Giftspritze mischen, dachte ich.
Meine Geschwister waren noch sehr jung, für sie war die bevorstehende Autofahrt nur ein weiteres Brumm-Brumm mit Benjamin Blümchen im Ohr und Bratwurst am Rastplatz. Unglaublich, wie unbeschwert sie neben mir auf der Rückbank schlummerten, während mein Vater und meine Mutter uns abwechselnd in den Alltag zurück brausten. Und obwohl ich ihre Wehmut spürte, beneidete ich auch sie und fühlte mich als das einzige, das wahre, das unschuldigste Opfer dieser Geschichte. Sie gingen ab Montag wieder zu Arbeit, ich musste in die vierte Klasse. Sie bekamen Geld, ich bekam schlechte Noten. Sie hatten Feierabend, ich musste noch Hausaufgaben machen. Sie durften Auto fahren, mir blieb nur der Bus. Sie hatten einander, ich hatte war verknallt in Kerstin, die mich aber doof fand.
All das war für süße 3 Wochen vergessen gewesen. Dieser Urlaub hatte für mich einen unvergleichlich hohen Stellenwert gehabt und nun trennten mich nur die getönte Scheibe unseres Toyotas und knapp 1000 Kilometer quer durch Südeuropa vom alltäglichen Elend eines 9-jährigen Jungen. Ich setzte mir die Kopfhörer meines Walkmans auf und suchte Trost bei Michael Jackson, während mein Vater hinter mir die Tasche mit der Schmutzwäsche in das Auto wuchtete.
Zu «Black or White» träumte ich von meiner Flucht. Ich würde mich beim ersten Halt in die Mischwälder hinter der Tankstelle schlagen und von weitem beobachten, wie sie mich suchten. Natürlich würde die Trennung uns allen schwerfallen, aber wer das deutsche Schulsystem kennt, der kennt auch Fluchtgedanken, das ist normal bei uns. Schnorchel und Taucherbrille würde ich einpacken, die Angel und den Walkman. Die Badehose an meinem Leib genügte bei diesen Temperaturen als Kleidung und die Batterien waren noch fast neu. Vielleicht würde ich mir noch die Benjamin Blümchen-Kassetten stibitzen, die mir das Einschlafen damals doch sehr erleichterten.
Während mein Vater bereits mit Spanngurten die Fahrräder am Auto befestigte und meine Mutter ein letztes Mal die Kühlbox mit dem Reiseproviant kontrollierte, setzte sich eine Stechmücke auf meinen Arm. Sie rammte ihren Rüssel in die Haut und ich sah ihr zu. Wenn mir meine Flucht auch nicht gelingen sollte, dieser Stich würde mir bleiben. Vielleicht konnte ich ihn so lange immer wieder aufkratzen, bis die Trauer über den Verlust des Urlaubs meiner gewohnten Gleichmütigkeit gewichen war.
Mit dem Zuschlagen des Kofferraumdeckels begann die Abschiedszeremonie. Es hatten sich einige Urlaubsfreundschaften mit anderen Familien geschlossen, die mir allesamt scheißegal waren. Besonders das notorisch blasse Ehepaar aus Bern ging mir gehörig auf die Eier. Mit der übergriffigen Frechheit des Alters quetschten sie noch einmal mit ihren welken Händen an mir herum. Sie nannten mich einen «Himmugüegeli» und sagten nie, was das heisst.
Als sie von mir abliessen hatte ich meinen Entschluss gefasst. Ich schlich mich an den Erwachsenen vorbei und hatte schon bald das Ende des Hotelgeländes erreicht, als mir ein für mein Alter erstaunlich intelligenter Gedanke kam: Was, wenn ich nicht vor meinem Alltag weglaufen wollte, sondern vor mir selbst? Fürchtete ich mich wirklich vor der 4. Klasse oder ängstigte mich das Älterwerden? Ich sah die Sonne im Meer versinken und erkannte die Unumstösslichkeit der Zeit, die Schönheit des Vergänglichen und das Leben als göttliche Herausforderung. Während der gesamten Rückfahrt sagte ich nicht ein Wort. Wir würden sicher bald wieder in den Urlaub fahren. Meine Kindheit aber, war für immer vorbei.
Bis im September veröffentlichen wir jeden Freitag eine Sommergeschichte auf unserer Website. Bisher erschienen Beiträge von Lara Stoll (Winterthur), Sebastian 23 (Bochum), Andy Strauss (Münster), Laurin Buser (Basel), Linus Volkmann (Köln) und Matto Kämpf (Bern).
Für seine Nachfolgerin Hazel Brugger hat Lars Ruppel folgende fünf Begriffe festgelegt:
– Bakschisch
– Zirkusdirektor
– Kürbiskernöl
– Rammbock
– Hebamme
Hazel Brugger hat eine Woche Zeit, daraus einen Sommertext zu basteln. Wie die Zürcher Poetin diese Aufgabe löst, das erfahren Sie ab dem 17. August 2012 online.