Sie ist so talentiert als Sängerin und Songwriterin, dass man glauben könnte, sie sei die Tochter von David Bowie und PJ Harvey. Dazu spielt sie noch berauschend gut Gitarre, dass man befürchtet, Prince könnte sie entdecken und in eine Zeugin Jehovas verwandeln: Anna Calvi ist live schlicht eine Sensation.
Man ist immer ein bisschen vorsichtig, wenn ein britischer Hype Kontinentaleuropa erreicht hat. Denn nicht selten scheinen die Vorschusslorbeeren, mit denen ein Künstler, eine Künstlerin auf der Insel eingedeckt wurden, in unseren Augen und Ohren dann etwas weniger reif als zu Hause, im euphorischen Britannien. Dort jubeln sie einen neuen Act rasch empor – aber, kaum ist er bei uns angekommen, womöglich auch schon wieder runter.
Anna Calvi gehört zu diesen Sensationen, die die Pop-Heimat UK hervorgebracht hat: 2011 wurde sie von der BBC als eine der spannendsten Newcomerinnen angekündigt, am Ende des Jahres sah man dies durch ihr Debütalbum bestätigt.
Und heute? Heute stehen wir im Burghof Lörrach, mit gedämpfen Erwartungen, weil wir schon mehrfach von den britischen Hypes enttäuscht worden waren.
Viel zu gut für einen Hype
Anna Calvi widerlegt unsere Befürchtungen, Anna Calvi übertrifft unsere Erwartungen. Anna Calvi ist viel zu gut, für einen Hype. Sie ist göttlich.
Ihr Potential als Sängerin und Songwriterin lässt sich auf den beiden Studioalben erahnen, die sie unterdessen veröffentlicht hat. Aber was diese Frau auf die Bühne bringt, an Talent, an Energie, an Disziplin und zugleich Gefühlen, ist fantastisch und begeistert uns von der ersten Minute an – eine volle Stunde. Abgang auf dem Höhepunkt. Genial.
Betörende Stimme
Doch der Reihe nach: Den Auftakt macht der dänische, musikalisch tränige aber sympathische Support-Act Lasse Matthiessen. Seine Stimme ist stark, sie ist variabel, sie ist eindringlich – seine Songs aber sind es nicht. Da bleibt kaum was hängen. Vielleicht entfaltet das mit seiner Band Wirkung, hier, solo, als Ersatz für Thea Hielmeland, die ihren Auftritt wegen eines Todesfalls im engeren Familienkreis absagen musste, wirken seine Trennungslieder langatmig.
Anders Anna Calvi. Sie bringt mehr mit als nur eine betörende Stimme: Songs, Ausdruck, Performance, Virtuosität. Ihre Lieder sind voller Sehnsucht, changieren zwischen Kraft und Fragilität, passen nicht ins Schema der Mainstream-Radios, sollten dennoch dort gespielt werden.
Am zugänglichsten ist noch ein dunkles Lied wie «Love Won’t Be Leaving», das ein bisschen an Beach House erinnert, ein bisschen auch an Velvet Underground. Ein Stück, das uns schweben lässt.
Das ist, wie erwähnt, noch einer der zugänglicheren Songs, aber nicht einmal der stärkste, den sie an diesem grandiosen Abend im Burghof Lörrach zu bieten hat. Denn schon das vorherige Stück «Desire» hat dunklen Ohrwurmcharakter, oder der Opener «Suzanne & I», den man in den 1980er-Jahren der Band Simple Minds zugeschrieben hätte.
Anna Calvi in diesem Jahrzehnt einzuordnen, täte ihr ansonsten unrecht. Sie könnte die überaus talentierte Tochter von PJ Harvey und David Bowie sein. Pathos in den Refrains, rohe Verletzlichkeit in den Strophen. Dazu eine Gitarre, die mit viel Effekt den Raum füllt, und Arrangements, die so ausgeklügelt sind wie zu Bowies Berliner Zeiten (Eno und Visconti sei dank).
Hätte mehr Publikum verdient gehabt
Nur knapp 200 Leute sind an diesem regnerischen Montag im Lörracher Burghof erschienen. Es braucht Zeit, bis die neue, urbanere Ausrichtung des «Stimmen»-Festivals auch beim entsprechenden Zielpublikum angekommen ist. Anders können wir es uns nicht erklären, dass die Hipsters der Grossregion nur spärlich erschienen sind, um diese musikalische Offenbarung mitzuerleben. Oder sind die noch rekonvaleszent vom Gurten Festival? Ist ihnen Calvi gar zu komplex?
Das wäre bedauerlich. Denn sie mag zwar fokussiert sein, aber im negativen Sinn verkopft wirkt ihre Musik nicht. Nie. Schlau, ja, brillant, auch, aber nicht forciert.
Die Dringlichkeit von Indie-Gitarren treffen auf progressive Steigerungen. Eine herrliche Kombination, stilsicher von Calvi und ihrem Begleittrio auf die Bühne gebracht: von einem dynamischen Drummer (Alex Thomas), einem Keyboarder (Glenn Callaghan) und einer Multiinstrumentalistin (Mally Harpaz), die souverän das indische Harmonium oder den E-Bass bedient – und auch als Perkussionistin oder Vibrafonistin begeistert.
Starkes Team
Ein eingespieltes, starkes Team, das jedes Ritardando von Calvi, jedes Decrescendo punktgenau mitspielt und von Beginn weg grossen Druck in den Burghof zaubert. Das rockt. Wer in diesem Frühjahr vom Kasernen-Auftritt von Joan As Police Woman begeistert war, reibt sich nun erstaunt Augen und Ohren, denn das ist ja sogar noch zwingender, noch begnadeter, noch fantastischer.
Und wenn Calvi dann mal ein Instrumental dazwischen schiebt, mag man nicht etwa Bier holen, sondern steht gebannt da und hört sich ihr grandioses Gitarrensolo an, ausdrucksstark, fingerfertig, reif für die Tonspur eines Tarantino-Films. Gut genug, um von Prince entdeckt zu werden. Zum Glück ist das noch nicht geschehen, hat sie dieser noch nicht in eine Zeugin Jehovas verwandelt.
So bleibt uns Anna Calvi hoffentlich so erhalten wie wir sie an diesem Abend erleben: als Femme fatale, verführerisch, dunkel, fragil und warm zugleich, die sich mit einem Song wie «I’ll Be Your Man» nicht nur für einen Tarantino- sondern auch einen Bond-Soundtrack empfiehlt.
Ehe sie aber so gross rauskommt wie zuletzt eine Adele, würden wir sie gerne noch einmal live erleben. Denn im Unterschied zu vielen Hypes stellt sie ihre Studioaufnahmen auf der Bühne noch in den Schatten.
Zum Nachempfinden, hier ihr Auftritt am diesjährigen Glastonbury-Festival: Dringt in echt noch stärker in Körper und Geist ein. Dennoch hören Sie in das Konzert rein, zum Beispiel den hypnotischen Höhepunkt «Carry Me Over» (ab 26:44). Grossartig.
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Nächste Gelegenheit, sich von Anna Calvis Livequalitäten zu überzeugen: Zeltival Karlsruhe, 5. August. Sie werden nicht enttäuscht werden.