Nicht jeder Nazi-Raubkunst-Fall ist eine Geschichte fürs Kino, so wie jene um Gustav Klimts «Goldene Adele». Doch auch in der Schweiz gibt es interessante Fälle – zum Beispiel jenen um Ferdinand Hodlers «Stockhornkette».
Der Film «Woman in Gold» verarbeitet ein Paradebeispiel eines sogenannten Restitutionsfalls. Der Paradefall hat alle Ingredienzen, die eine gute Geschichte und darum auch einen Film abgeben: ein weltberühmtes Bild einer schönen Frau (die «Goldene Adele» von Gustav Klimt, 1907 gemalt), das in fragwürdigem Besitz ist – nicht einer dubiosen Privatperson, sondern der Republik Österreich – und nach jahrelangem Streit einer Verwandten des ehemaligen Besitzers ausgehändigt werden muss, die es 2006 verkauft und, dem Vernehmen nach, dafür den damals welthöchsten Preis (135 Millionen US-Dollar) erzielt.
Diese Geschichte erscheint eine nicht untypische österreichische Geschichte zu sein – und sie ist dies auch bis zu einem gewissen Grade. Zugleich ist sie aber auch bloss eine besonders faszinierende Variante eines weit verbreiteten Vorgangs und, dies sei beigefügt, eines Vorgangs, zu dem es auch schweizerische Varianten gibt.
Österreichisches mag man darin sehen, dass sich im Verfahren auf der offiziellen und national eingestellten Seite kein Bewusstsein für die schuldhafte Verstrickung zeigte, das heisst die Jahre 1938–1945 kaum als mitzuverantwortende Vergangenheit betrachtet und in den vielen Jahren danach kaum Bemühungen unternommen wurden, das damit verbundene Unrecht zu begleichen. Es gab sie zwar ebenfalls, die österreichischen Stimmen – zum Beispiel die «Salzburger Nachrichten», die es als bestürzend bezeichneten, dass sich das Land jahrelang mit «Diebesgut» herausgeputzt hat.
Nicht spezifisch österreichisch ist der Reflex, Kunst, die als national bedeutsam eingestuft wird, mit wenig Rücksicht auf Besitzverhältnisse bei sich behalten zu wollen. Vom Klimt-Gemälde wird gesagt, dass es – wie Mozart – zu den kulturellen Ikonen und Insignien gehöre, darum Teil der Identität des Landes sei und sein Verlust einem «Super-Gau» gleichkäme. Wie wir wissen, ist dieser 2006 aber eingetreten. Österreich hat überlebt, aber es steht in dieser Geschichte nicht besonders gut da.
Der Fall Silberberg
Max Silberberg
Es gibt aber keinen Grund, von der Schweiz aus scheel auf den österreichischen Nachbarn zu blicken. In unserem Land haben wir beispielsweise den ungelösten Restitutionsfall eines in der Obhut des Kunstmuseums St. Gallen befindlichen Gemäldes von Ferdinand Hodler aus dem früheren Besitz des jüdischen Industriellen und Kunstförderers Max Silberberg in Breslau. 1942 wurde das Ehepaar Silberberg ermordet. Zuvor war es schon 1933 aus seinem Haus vertrieben und gezwungen worden, einen Grossteil seiner Kunstsammlung zu versteigern. Vom besagten Hodler weiss man, dass er 1935 für umgerechnet 7000 Franken an einen nicht eindeutig identifizierbaren Käufer veräussert wurde.
1985 erwarb der St. Galler Regierungs- und Nationalrat Simon Frick, ohne die Vorgeschichte zu kennen, also, wie auch der juristische Terminus lautet, gutgläubig das Bild bei der Galerie Kornfeld. Frick starb 2011. Bereits zehn Jahre zuvor hatte sich Gerta Silberberg, die in England lebende Schwiegertochter des ermordeten Ehepaars bei ihm gemeldet, um die rechtliche Seite dieses Falls zu klären. Das muss für den schweizerischen Besitzer unangenehm gewesen sein. Gemäss einem ausführlichen Pressebericht vom Dezember 2014 vertrat er analog zu der österreichischen Argumentation im Fall Klimts die Auffassung, dass dieses «Schweizer Bild» in der Schweiz bleiben solle. Denn es stamme nicht nur von einem Schweizer Maler, sondern habe ein sehr schweizerisches Motiv: die «Stockhornkette am Thunersee». (1)
Inzwischen sind die Fricks und auch die Silberberg-Schwiegertochter verstorben und der Konflikt zu einer Sache der Nachwelt geworden. Das St. Galler Kunstmuseum, dem dieses und andere Bilder von Frick als Dauerlegat vermacht wurden, befindet sich nun in einem schwer lösbaren Dilemma, weil es das kontaminierte Bild nicht aufhängen darf und aufgrund des testamentarischen Wunsches zusammen mit anderen Bildern doch ausstellen sollte. Nicht aufhängen darf man ein solches Bild, weil man gemäss dem auch von der Schweiz unterzeichneten Washingtoner Protokoll von 1998 über Vermögenswerte aus der Holocaust-Zeit der problematischen Vergangenheit solcher Bilder Rechnung tragen sollte.
Die Schweiz als Drehscheibe
Es kann kein Zweifel bestehen, dass die «Stockhornkette» 1935 «verfolgungsbedingt entzogen» wurde. Und es ist einigermassen erwiesen, dass das Bild, was paradox erscheint, noch während der Kriegsjahre über den jüdischen Kunsthändler Fritz Nathan in die Schweiz gelangte. Die Schweiz war, schon wegen ihrer Nachbarschaft zum NS-Machtbereich, aber auch wegen ihren guten internationalen Verbindungen, eine Drehscheibe für den sauberen wie auch den unsauberen Kunsthandel. Wer der Besitzer des Hodler-Bildes war, bevor Simon Frick es 1985 bei Kornfeld ersteigerte, ist ebenfalls bekannt.
Der Einlieferer der Kornfeld-Auktion beziehungsweise seine Nachkommen dürften in einem Entschädigungsverfahren kaum belangbar sein. Nach schweizerischer Rechtsordnung muss gutgläubiger Erwerb nach fünf Jahren auch dann nicht zurückerstattet werden, wenn in der Vorgeschichte des Objekts eine unrechtmässige Transaktion stattgefunden hat. Weil die Zeitbegrenzung der Problematik verfolgungsbedingter Enteignungen nicht entsprach, war diese Bestimmung 1946/1947 teilweise ausser Kraft gesetzt worden. Nach dem heutigen Verständnis sollte auch im Fall eines verjährten gutgläubigen Erwerbs eine Rückgabe erfolgen und der gutgläubige Erwerber voll entschädigt werden, zunächst aus der Kasse des Bundes, dann über Regress auf den Nachfolgestaat des damaligen Unrechtsregimes.
Es ist kaum möglich, aus dieser Materie generalisierbare Erkenntnisse abzuleiten. Jeder Fall ist ein Einzelfall, und überall gibt es trotz der rechtlichen Rahmenbedingungen stets Spielräume für individuelles Handeln. Mit bloss formalrechtlichen Bestimmungen lassen sich solche Fälle kaum lösen. Da müssen weichere Verfahren greifen. Das Bundesamt für Kultur hat in diesem Sinn ein Merkblatt für «gerechte und faire Lösungen» herausgegeben. Österreich hat im Falle des Klimt-Bildes nicht von sich aus restituiert, sich dann aber halb freiwillig mit einem Schiedsgerichtsverfahren einverstanden erklärt, und dieses hat auf Rückgabe entschieden.
In der Schweiz kam übrigens zufällig und doch nicht zufällig ein anderes Bild aus der Silberberg-Sammlung vorübergehend in ein Museum: ein Max Liebermann, der von den Erben des letzten Käufers, einem schweizerischen Spitzenbanker, 1992 dem Bündner Kunstmuseum vermacht, aber im Jahr 2000 dann der damals noch lebenden Schwiegertochter Gerta Silberberg ausgehändigt wurde.
Man ist sensibilisiert
Keine Frage, dass öffentliche Kunstsammlungen die Herkunft (Provenienz) ihrer Bilder besonders sorgfältig abklären und dass sie im Falle von «verfolgungsbedingtem Entzug», wozu auch der Verkauf aus gegebener Notlage unter dem üblichen Marktpreis gehört, zugunsten der Ansprüche der Opfernachkommen entscheiden müssen. Dem entspricht heute auch mit anerkennenswerter Selbstverständlichkeit das Berner Kunstmuseum im Fall des Gurlitt-Erbes.
Die Medien und die Öffentlichkeit sind inzwischen auf diese Problematik sensibilisiert. Das Interesse konzentriert sich aber auf die kanonisierte hohe Kunst. Und da ist das sehr eingängige und mit Blattgoldauflagen versehene Klimt-Bild geradezu ein Idealtypus eines Objekts, das unserer Aufmerksamkeit sicher sein kann.
Darüber sollte man aber nicht vergessen, dass es auch andere «Raubkunst» gab, weniger beachtete Zeichnungen, aber auch «zweitklassige» Ölgemälde, die für die ursprünglichen Eigentümer ebenfalls wichtig sein konnten. Dabei geht es um Unikate. Dann geht es aber auch um die Grosskategorie der multiplen «Kulturgüter» wie Bücher, Noten, Schallplatten, antikes Mobiliar, Teppiche, Geschirr und Besteck bis hin zu Pelzen, Toilettenutensilien und Briefmarkensammlungen. Da ist man zwar weit weg von der goldenen «Adele», aber immer noch im Zentrum der Problematik, die darin besteht, dass Menschen aufgrund rassistischer Verfolgung enteignet wurden und man ihnen den trivialen Besitz abnehmen konnte, weil man ihre Lebensberechtigung in Frage stellte oder man ihnen diese sogar absprach.
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1) Jürg Krummenacher in der NZZ vom 17. Dezember 2014. Damit korrigierte der gleiche Autor seine in der Ausgabe vom 10. März 2003 vorgenommene Einschätzung des Falls.