Die «Fountain» genannte Pissoir-Schüssel ist eines der Schlüsselwerke der Kunst-Moderne. Marcel Duchamp nahm ein stinknormales Urinoir aus einem Sanitärgeschäft, kippte es um 90 Grad und erklärte es mit der Signatur «R. Mutt» zur Kunst.
Das Originalwerk beziehungsweise eine autorisierte Replik (das Ur-Pissoir ist verschollen) ist im Museum Tinguely zwar nicht zu sehen. Dafür mehrere Variationen des berühmten Ready Mades: eine vom Künstler selber hergestellte kleine Kopie für sein Koffer-Museum, eine gülden glänzende «Buddha»-Version von Sherrie Levine, eine Applikation von Jean Tinguely an seinem Monsterwerk «Utopia» und eine Version von Hans Haacke, die wirklich als Brunnen plätschert.
Aus Kunst entsteht Kunst. Dieses Prinzip ist so alt wie die Kulturgeschichte selber. Das gilt auch für die Musik. Das Museum Tinguely wirft nun zusammen mit der Paul Sacher Stiftung einen aufschlussreichen Blick auf diese Aneignungs- und Fortschreibungspraxis in der Kunst und der Musik. Die oben beschriebenen Kunstwerke sind neben weiteren Beispielen quasi als musealer Prolog gedacht für eine Ausstellung, die sich vornehmlich der Musik widmet.
Die Paul Sacher Stiftung kann auf einen höchst umfangreichen und bedeutenden Fundus an Originalpartituren und Tondokumenten zurückgreifen. Alleine schon die ausgestellten Partituren lohnen den Museumsbesuch – nicht nur für Musikspezialisten. Denn die handschriftlichen und zum Teil radikal bearbeiteten Notenblätter wirken zum Teil selber wie Kunstwerke.
Ein Gang durch die Geschichte der Aneignung
Richtig spannend und einnehmend wird es aber, wenn man eines der iPads in die Hand nimmt und sich vorspielen lässt, wie und was in der Musik ab 1900 fortgeschrieben und angeeignet wurde.
Das beginnt bei berühmten Komponisten wie Igor Strawinski oder Claude Debussy, die sich Werke anderer Komponisten angeeignet und fortgeschrieben haben. Es geht weiter mit Werken, die von ihren Komponisten zum Teil viele Male selber weiterbearbeitet wurden. Es folgen die Einbindung von Volksmusik in klassische Werke und schliesslich die Popularisierung von klassischer Musik sowie die Nobilitierung von Popsongs durch die klassische Konzertmusik.
Drei konkrete Beispiele dazu:
- Der immense Einfluss Johann Sebastian Bachs auf die Komponisten der Generationen nach ihm ist bekannt. Aber es erstaunt doch immer wieder, wie viele Vertreter der Neuen Musik dem grossen Meister musikalisch ganz direkt ihre Referenz erwiesen haben. In der Ausstellung sind entsprechende Arbeiten von Strawinski, Anton Webern, György Kurtág und Mauricio Kagel zu sehen und zu hören.
- Der ungarische Komponist Béla Bartók sammelte mit seinem Phonografen als einer der Ersten Aufnahmen urtümlicher Volksmusikmelodien in Südosteuropa und arbeitete diese in seine Werke ein. In der Ausstellung sind Originalaufnahmen von Bartók zu hören sowie Ausschnitte aus Kompositionen, die daraus entstanden sind.
- Dazu kommen Beispiele von klassischen Kompositionen, die aufgrund von Filmen ihren Durchbruch erlebten oder zumindest ein breites Publikum erreichten, das wegen dieser Musik nie und nimmer in den Konzertsaal gepilgert wäre. Ein Musterbeispiel sind György Ligetis «Atmosphères», die als Soundtrack für Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey» in sehr viele Ohren gelangten, die sonst mit Neuer Musik gar nichts am Hut haben.