Lukas Holliger nimmt sich in seinem Romandebüt eine beliebte literarische Spezies zur Brust: den männlichen Davonschleicher. Der mag zwar im Film jeweils gut wegkommen, doch auf Papier ist Einsamkeit ziemlich unsexy. Holliger zeigt das. Und schreibt nebenbei eine Ode an Basel.
Dort schlurft er wieder und markiert Existenz. Erst kurz zum Supermarkt in der Mülhauserstrasse, dann zum Geldautomaten in der Elsässerstrasse und schliesslich ab über die Mittlere Brücke in dieses eselgraue, trostlose Gebäude des Arbeitsamts.
Dort sitzt er. Wartet. Lässt sich stempeln.
Wie demütigend das alles ist, wie fern aller Ästhetik. Dieser Einsame ist kein Held, er ist ein Verlierer. Er ist Lukas Holligers Schlüsselfigur zu diesem Spiegelkabinett der Anti-Helden.
Lukas Holliger, Basler Autor mehrerer preisgekrönter Theaterstücke, hat mit «Das kürzere Leben des Klaus Halm» sein Romandebüt vorgelegt (bereits 2015 erschienen: «Glas im Bauch», Erzählungen). Und man staunt zunächst, mit welcher Leichtfüssigkeit sich der Stückeschreiber handwerklich in der Kulisse der echten Welt zurechtfindet. Die aalgrünen Trams, die Schuhmacherminiatur mit dem steifen Arm im Schaufenster: Holligers Roman ist gespickt mit jenen Details, die Basel zu der Stadt machen, die sie ist. Ein waschechter Baselroman also – und mittendrin diese Handvoll Nichtsouveräner, die strampelnd versuchen ihre Füsse auf den Boden zu kriegen.
Lukas Holliger, 1971 in Basel geboren, ist Dramatiker und Dramaturg und gehört zu den meistgespielten zeitgenössischen Stückeschreibern der Schweiz. Seine Werke finden Beachtung im ganzen deutschsprachigen Raum und wurden auch ins Polnische und Griechische übersetzt.
Sekundenfluchten in Fremdschicksale
Da ist zunächst der Ich-Erzähler, ein namenloser Filmvorführer, der vor einundzwanzig Monaten seinen Job im Kino «Playtime» verlor. Der misserfolgsbedingte Rauswurf aus dem Universum der Filme ist für den Mann nicht zu verkraften, er schlägt sich die Nächte mit einem alten VHS-Rekorder um die Ohren und «castet» tagsüber Passanten im Tram.
Er beobachtet das 17-jährige Mädchen mit der Liza-Minelli-Frisur, ihren sichtlich doofen Freund tauft er Hugh Grant. Sekundenfluchten in Fremdschicksale. Aber wie sie ihn alle anekeln diese Verheirateten, Verlobten, Verliebten auf den Brücken dieser Stadt. Er dagegen, er sagt sich gelegentlich, dass es der grösste Akt der Freiheit sei, keine Freunde zu brauchen.
Narzisst oder Voyeur
Eine Selbstlüge natürlich, denn keine Freunde zu haben ist vor allem dann sexy, wenn irgendwo eine Kamera draufhält. In Filmen eben. In der Wirklichkeit sind die Einsamen zur Unsichtbarkeit verdammt.
«Ein Einsamer hat nur zwei Möglichkeiten. Entweder er beobachtet sich selbst und führt Selbstgespräche, oder er beobachtet andere. Narzisst oder Voyeur, etwas Drittes gibt es nicht.»
Auszug aus dem Roman
Im Tram trifft der Voyeur auf Halm, an den er sich fortan klammert wie an die sprichwörtliche letzte Rettung. Klaus Halm ist Papeterist, hat Frau, Kind, ein Leben und damit alles, was dem Erzähler fehlt. Aber was heisst schon «haben»? Halm hat vor allem Zweifel. Zweifel an der Liebe zu seiner Frau, Zweifel an der Vaterliebe seines Sohns, Zweifel an der Zukunft seiner Papeterie, der die Kunden wegsterben. Und dann ist da noch diese Frau mit der Zahnlücke, Yvonne, die Halm bald drüben in Huningue ihre Brustwarzen zeigt. Ab dann gerät Halms Welt endgültig aus den Fugen
«Ewig dieser einsame Steppenwolf-Männerscheiss!»
Halm wie der Namenlose gehören zur Spezies der männlichen Davonmacher in ihren besten Jahren, die man im ersten Literaturhalbjahr 2017 auch schon bei Jonas Lüscher («Kraft») und Lukas Bärfuss («Hagard») erleben durfte. Ohne damit gleich einen Trend ausrufen zu wollen – eine gewisse Virulenz maskuliner Flüchtigkeit liegt auf der Hand. Holliger verzichtet allerdings darauf, Halms Zauderei gegenüber der Familie mit einem «männlichen» Urinstinkt nach Freiheit zu übertünchen, im reuevollen Kriechgang von der Affäre zur Frau zurückgekehrt spottet diese dem Noch-Gatten ins Gesicht: «Ewig dieser einsame Steppenwolf-Männerscheiss!»
Lukas Holliger arbeitete insgesamt 13 Jahre an diesem Roman, was dem Autor die Möglichkeit gab, reale Begebenheiten wie die Eröffnung der Dreiländerbrücke 2007 miteinfliessen zu lassen. Und Basel eigne sich hervorragend für solche Borderlinemanöver, wie sie seine Figuren vollziehen, sagt der Autor gegenüber «Telebasel». Dieses Grenzüberschreitende, das der Stadt inne wohnt, habe er versucht in etwas Psychologisches zu übertragen. «Auch die Figuren überschreiten Grenzen und sehen, dass sie an anderer Stelle vielleicht mehr Potenzial hätten.»
Prädikat lesenswert
Holliger selbst hat sein Potenzial als Romanschreiber mit «Das kürzere Leben des Klaus Halm» eindrücklich unter Beweis gestellt. Mit dem Geschick eines literarischen Chirurgen operiert er mit mehreren Perspektiven gleichzeitig, legt Nervenbündel und Erzählstränge frei und haut auch mal drauf, dass es eine Freude ist. Auch schön: Den Figuren geht in ihrer Jammerlappenhaftigkeit der Humor nicht ab. Aber Holliger verlacht die Einsamen nicht. Er zelebriert sie nur ohne Weichzeichner.
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Lukas Holliger: «Das kürzere Leben des Klaus Halm», Roman, Zytglogge-Verlag, CHF 32.