Dortmund, Nordstadt: Eine Frau läuft durch die Strassen des ehemaligen Arbeiterviertels, keiner der Männer, die auf der Strasse handeln, händeln, rumlungern, beachtet sie. Marija (Margarita Breitkreiz) stammt aus der Ukraine, und dorthin – das hat sie sich geschworen – bringt sie keine Fremdenpolizei je zurück.
Doch der Traum von der Unabhängigkeit und dem eigenen kleinen Coiffeursalon kostet, und wenn das Geld knapp ist, gibt sie eben ein Stück Selbstachtung preis: Marija geht vor dem türkischen Vermieter ihrer Bruchbude in die Knie, um bis auf Weiteres gratis logieren zu können.
Marijas Vorteil in dem Haifischbecken, wo legale Immigranten die illegal Eingewanderten abzocken: Sie kann Deutsch. So lernt sie auch den windigen Baustellenleiter Georg (Georg Friedrich) kennen, der Marija als Dolmetscherin bei einem krummen Deal mit der Russenmafia einsetzt. Aber kommt das gut?
«Marija» ist das eindrückliche Porträt einer Frau, die sich in der moralischen Grauzone zu verlieren droht. Das Drama ist packend, ohne dabei je reisserisch zu werden. Für seinen ersten Langspielfilm hat Michael Koch den Basler Filmpreis 2017 gewonnen, jetzt ist er für den Schweizer Filmpreis nominiert.
Am Telefon erklärt der Wahlberliner, wie er den Stoff für seinen Film gefunden hat.
Michael Koch, Ihre Marija ist sehr ambivalent, in dem was sie tut. Was hat Sie als Regisseur an der Figur fasziniert?
Die Geschichte beruht auf der Begegnung mit einer Frau, die ich auf einer längeren Reise durch die Ukraine kennenlernte. Als sie nach Deutschland zog, habe ich sie in Dortmund wieder getroffen. Eine starke, stolze Frau, die sich mit der Opferrolle, die ihr von der Gesellschaft zugeschrieben wurde, nicht abfinden wollte. Ich hatte also beim Schreiben eine ganz konkrete Person im Kopf und habe dann versucht, diese Frau in all ihren Facetten zu schildern. Interessant wird es, wenn ich mich als Zuschauer mit der gezeigten Person in Beziehung setze und meine eigenen moralischen Wertvorstellungen hinterfragen muss.
Der Schluss Ihres Filmes ist moralisch gesehen ja ziemlich zweifelhaft. Trotzdem gibt es so etwas wie ein Happy End.
Aber dieses Happy End hat seinen Preis: Marija kann ihr Bedürfnis nach Nähe nicht zulassen und glaubt, dass sie sich ihre Gefühle Georg gegenüber nicht leisten kann. Sie verliert auch ihre beste Freundin Olga und damit so etwas wie ihre Ersatzfamilie. Diese Isolation, Marijas emotionaler Rückzug, tut weh.
Das wirkt sehr echt. Hätte das Projekt auch als Dokumentarfilm funktioniert?
Für mich ist es ein Kompliment, wenn der Film auf Zuschauer dokumentarisch wirkt, auch wenn die authentische Wirkung komplett hergestellt ist. Es gibt ein relativ strenges visuelles Konzept. Alle Szenen laufen über die Hauptfigur, sie führt uns durch ihre Welt. Die Recherche zum Film glich derjenigen eines Dokumentarfilms. Es war mir wichtig, den Film nicht «über» die Betroffenen zu machen, sondern mit ihnen zusammen. Dafür musste ich mich in ihre Welt hinein begeben, von der der Film erzählt. Ich nahm mir also zeitweise ein Zimmer in Dortmund, lernte die Menschen kennen, liess ihre Geschichten in das Drehbuch einfliessen und engagierte sie später als Darsteller. So entstand ein «gestaltetes» Porträt mit einem gewissen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Warum haben Sie dafür Dortmund als Schauplatz gewählt?
Einerseits hat das mit der Ukrainerin zu tun, die ich damals kennenlernte, und die tatsächlich nach Dortmund gezogen ist. Andererseits habe ich in Köln studiert und fand das Ruhrgebiet schon immer spannend. An bestimmten Stadtvierteln lässt sich der Wirtschaftswandel gut ablesen: Nach der Stahlkrise sind viele Deutsche aus den Arbeitervierteln weggezogen, zurück blieben Türken erster und zweiter Generation. Heute leben dort Menschen aus 130 verschiedenen Nationen zusammen. Es ist ein Mikrokosmos, der viel über unsere Gegenwart aussagt und eine Lebensrealität abbildet, die viel zu selten differenziert betrachtet wird.
Der Alltag, den Ihr Film schildert, ist extrem hart. Was macht diese Härte aus?
Gewisse Strukturen führen dazu, dass sozial Schwache aus den noch Schwächeren Profit schlagen. Ein Roma aus dem EU-Mitgliedstaat Rumänien beispielsweise ist ganz legal in Deutschland, darf hier arbeiten und sich eine Wohnung suchen – er bekommt aber weder Wohnung noch Arbeit, weil er Ausländer ist. Noch bevor sich die Institutionen um ihn kümmern, werden dem Roma im Einwanderer-Milieu Schwarzarbeit und eine schäbige Bleibe angeboten. Ich will nicht verallgemeinern, aber ich habe das leider oft erlebt.
Läuft alles aufs Geld hinaus?
Geld spielt eine grosse Rolle, auch weil es die Umstände erfordern, in denen die Leute leben. Für alles wird Geld genommen, für jeden Dienst ein Gegenwert in Euro berechnet. Das führt dazu, dass Menschen sich ständig überlegen, welchen ökonomischen Nutzen sie aus ihrem Gegenüber ziehen können. Wenn sich das auf sämtliche Beziehungen überträgt, hat das meiner Meinung nach fatale Auswirkungen auf das eigene soziale Umfeld.
Wie haben Sie Schauspieler gefunden, die das glaubhaft verkörpern können?
Ich kannte Margarita Breitkreiz von der Volksbühne Berlin und war zunächst etwas unsicher, weil sie sehr expressiv spielt. Beim Casting merkte ich aber, dass sie ihre Energie so stauen kann, dass eine interessante Spannung entsteht. Ihre Emotionen sind zwar verhalten, aber auf der grossen Leinwand entdeckt man sie eben doch. Ausserdem passte Margarita von ihrer Körperlichkeit her gut zu der Geschichte, man hat das Gefühl, dass sie in diesem Viertel tatsächlich überleben könnte. Das gibt dem Film eine Glaubwürdigkeit, die sich nicht nur durch Worte, sondern auch physisch vermittelt.
Und Georg Friedrich als krimineller Bauunternehmer?
Georg kenne ich ebenfalls von der Volksbühne, er hat dort auch mit Margarita gespielt. Ich hatte ihn schon beim Schreiben als Idealbesetzung im Kopf, zum Glück hat es geklappt! Er schafft es, der Figur des Hochstaplers eine Verletzlichkeit zu verleihen, die mich berührt. Georg arbeitet sehr intuitiv, zugleich ist er ein alter Hase im Geschäft. Für mich gehört er definitiv zu den besten deutschsprachigen Kinodarstellern überhaupt.
«Marija» hat nicht nur den Basler Filmpreis gewonnen, er ist auch für den Schweizer Filmpreis nominiert …
Darüber freue ich mich sehr. Der Film spielt ja weder in der Schweiz, noch hat er Schweizer Darsteller. Einzig die Ukrainerin Olga Dinnikowa, die im Film Marijas Freundin spielt, lebt in Zürich. Trotzdem ist das auf den ersten Blick sicher kein typischer Schweizer Film. Auch wenn sein Thema momentan für viele Städte in Europa relevant ist.
Und was sagt die Frau, die Sie zu diesem Film inspiriert hat, zu «Marija»?
Sie hat den Film in Kiew an einem Filmfestival gesehen und war sehr ergriffen. Sie hat sich sehr darüber geärgert, dass der Film dort keinen Preis bekam. Für mich war ihre Reaktion eines der schönsten Komplimente bislang.