Mit der Grenzenlosigkeit verhält es sich dieser Tage so wie mit dem Abspielen von Slipknot um zwei Uhr morgens: Wenn mans selber praktiziert eine vernünftige Sache, wenns der Nachbar tut eine Zumutung. Die gute alte Grenze ist zurück im Denken, die Freiheit davon gilt als frivol und verantwortungslos.
Für die Schweizer und die meisten Europäer ist der Ruf nach der Grenze risikolos. Tendenziell befindet man sich auf der richtigen Seite davon, und will man sie mal übertreten, etwa um seinen Kombi mit sagenhaft günstigem Schuppenshampoo zu befüllen, ermöglichen grosszügige Abkommen freie Fahrt.
Die Grenze gilt immer nur für die anderen – dieses Privileg hat der Zürcher Künstler Mischa Camenzind am Sonntag kurzerhand abgeschafft. Quer über die Uferstrasse auf der Klybeckinsel baute er einen Grenzzaun auf, Durchlass erhielt nur, wer willkürliche Kriterien erfüllte. Zwei Uniformierte liessen erst nur Baselbieter passieren, dann nur Blauäugige oder Dunkelhäutige.
Wütende Reaktionen
«Ja, die Reaktionen waren spannend», sagt Camenzind. Manche hätten auf die Aktion äusserst empfindlich angesprochen. «Es gab Leute, die sich sehr enervierten, die nicht einverstanden waren, dass ihnen die persönliche Freiheit beschnitten wird», erzählt der Künstler.
Camenzind habe die Leute nach einer Minute über die Kunstaktion aufgeklärt: «Ich habe den Leuten erzählt, dass es mir darum ging, Ausgrenzung erfahrbar zu machen.» Die Aktion zählt zur Ausstellungsreihe Parcours Humain (siehe Box). Trotzdem waren einzelne Aufgehaltene derart aufgebracht, dass sie die Polizei verständigten.
Eine halbe Stunde hätte die Aktion dauern sollen, nach zwanzig Minuten schritt die Staatsgewalt ein. Erst energisch, dann durchaus verständnisvoll hätten die Beamten erklärt, dass so eine Strassensperre auch im Mäntelchen der Kunst bewilligungspflichtig sei. Eine Busse wird nicht gesprochen, teilt Polizeisprecher Toprak Yerguz mit: «Es waren alle Beteiligten kooperativ.»
Schweizer Pässe an Pendler verteilen
Für Katja Reichenstein, welche den grossen Holzpark auf der Klybeckinsel betreibt – einer der Ausstellungsorte von Parcours humain –, hat erst die Polizei mit ihrem Einschreiten die Kunstaktion vollendet: «Die Polizei, die sonst mit allen Mitteln Grenzen aufrechterhält, hat unsere Grenze eingerissen – mehr kann man sich nicht wünschen.»
Camenzind sieht das genauso. Er ist zufrieden mit dem Ausgang der Kunstaktion, seine improvisierte Landesgrenze habe für ein paar Minuten die Verhältnisse umgedreht.
Am 20. Mai soll eine zweite Aktion erfolgen. Dann will Camenzind auf der Europabrücke zwischen Deutschland und Frankreich Schweizer Pässe verteilen. Replica selbstverständlich, in die nicht biometrische Daten eingelassen sind, sondern das Programm vom Parcours Humain. Vorher will er dieses Mal aber eine Bewilligung der deutschen oder französischen Behörden einholen: «Es könnte sein, dass das Verständnis bei den Polizisten eher gering sein wird.»
Parcours Humain
Drei Jahre lang, von 2015 bis 2018 tourt der Parcours Humain durch die Schweiz, den Anfang machte Luzern, den Schlusspunkt setzt Genf. Der Parcours Humain will Kunst und Humanität zusammenführen und «so die Frage nach der Menschlichkeit im Kontext der aktuellen Flüchtlingsschutzkrise» stellen. Noch bis zum 5. Juni gastiert die Ausstellungsreihe unter dem Titel «Brücken schlagen statt Mauern bauen» in Basel. Dabei finden fast täglich Lesungen, Gesprächsrunden, Performances statt.