Die Inszenierung von Dorothee Elmigers preisgekröntem Roman «Schlafgänger» am Theater Basel scheitert an unausgegorenen Ideen, entpolitisierten Texten und lauwarmen Pointen.
In der Computersprache spricht man von «verlustbehafteter Kompression»: Wenn man eine Tondatei in ein MP3 umwandelt, wird die Datenmenge zwar erheblich verkleinert, es bleiben aber auch weniger Töne zurück. Ein kaum wahrnehmbar veränderter Klang, für menschliche Ohren kaum hörbar. Doch im Vergleich mit dem Original ein eklatanter Unterschied.
Scheinbar das gleiche Verfahren haben Julia Hölscher und Katrin Michaelsbei bei ihrer Bühnen-Adaption von Dorothee Elmigers Roman «Schlafgänger» angewendet. Den 142 Seiten schmalen und äusserst dichten Text haben sie auf 19 Seiten eingedampft. Soweit eine Selbstverständlichkeit im Theaterbetrieb. Doch Elmigers Text ist vertrakt. In ihrem assoziativen Textwald gibt es zwar Figuren, doch die Aussagen sind ihnen selten eindeutig zuzuordnen.
Die Stimmen werden zum ausufernden Diskurs, den sich Foucault nicht besser hätte ausmalen können: Körper, Grenzen, Migration, Medien und Schlaf sind die Themenfelder. Wenn man sich auf Elmigers glasklare Sprache einlässt und nicht wie ein Gymnasiast alles zu verstehen versucht – lässt sich «Schlafgänger» mit Gewinn lesen. Es ist ein schwieriges, aber starkes Buch. Das seine politische und poetische Sprengkraft leise entfaltet, wie ein trojanisches Pferd. Und misst man die Basler Inszenierung an Elmigers Text ist sie beinhart gescheitert.
Wie Schulbuben in der Badi
Auch wenn man sich auf diesen Versuch einlässt, die Inszenierung nicht am Buch zu messen, bleibt nicht viel mehr als stumme Ratlosigkeit übrig. Angefangen bei der Bühne von Paul Zoller. Da gibt es eine Reihe von spannenden Einfällen. Die Figuren bewegen sich auf doppeltem Boden: Oben schmale Bretter auf Eisenstelzen, unten ein Sumpf aus Kleidern in verschiedenen Grüntönen. Scheinbar eine theatergeschichtliche Referenz an die mehrstöckige Bühnen des Alt-Wiener Volkstheaters. Im 19. Jahrhundert liess zum Beispiel Johann Nestroy in seinem «Lumpacivagabundus» die Figuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten übereinander spielen, was ihre sozialen Unterschiede pointierte.
Doch in der Basler «Schlafgänger»-Inszenierung folgt dieser Kniff keiner gesellschaftskritischen Stossrichtung. Die grössere Fallhöhe verstärkt vielmehr die Hierarchie zwischen Bühne und Publikum (samt steifen Nacken in den ersten Reihen) und dient in der Inszenierung lediglich dazu, die Figuren nach abgegebenen Statements wiederholt von der Bühne plumpsen zu lassen. Sprechen die Figuren vom Fallen, fallen sie auch von der Bühne – gar einmal mit einem Winken ins Publikum, als wären es Schulbuben auf dem 3-Meterbrett in der Badi.
Keine Zeit zum Nachdenken
Auch im Umgang mit dem Text zeigt sich eine Unentschlossenheit, wogegen das Ensemble noch so sehr anspielen mag. So erzählt die ehemalige Burgtheater-Schauspielerin Liliane Amuat als Abteilungsleiterin Erika von einem Erlebnis im Nachtzug nach Wien: Dieser hält am Zürcher Flughafen. Auf dem Boden des gegenüberliegenden Perrons liegt ein Mann mit nacktem Oberkörper, zwei Bahnpolizisten drücken ihm die Knie in den Rücken, er schreit.
Die Frage nach dem Warum wird unausgesprochen in den Zuschauerraum zurück geworfen. Doch statt diese eindringlich erzählte Szene ins Bewusstsein des Publikums sinken zu lassen, fährt sofort ein grüner Plexiglas-Kubus vom Bühnenhimmel und aus den Lautsprechern wummert bedrohliches Raunen. Es bleibt kein Augenblick zum Nachdenken.
Gebrüllter Unsinn
Es ist ein grundsätzliches Problem dieser Inszenierung: Statt auf die Stärke des Textes zu vertrauen, versucht sie das Publikum permanent bei Laune zu halten. Wenn jemand spricht, wuseln die anderen herum. Wiederholt werden Passagen, die man sich leise gesprochen durchaus fesselnd hätte vorstellen können, mit steigender Lautstärke vorgetragen. Ist der Text leise und nachdrücklich, dann wird’s in der Inszenierung umso lauter.
So kippt zum Beispiel ein Monolog des Journalisten (Florian von Manteuffel) ins Schrille: Wenn er erzählt, wie er recherchierte, dass sich Asylsuchende die Fingerkuppen an Hauswänden blutig schliffen, damit ihnen keine Abdrücke mehr genommen werden könnten, dann tut er das brüllend. Das wäre nicht nötig, die blutigen Fingerkuppen sind eindringlich genug.
«Die Tuba ist nie schneller als der Mensch»
So tröpfelt der Abend dahin, es folgt eine musikalische Gesangseinlage mit Klavier-Geklimper, das an Kurt Weill erinnert, und ein paar unerklärliche lauwarme Pointen wie die von Vater Boll (Andrea Bettini): «Die Tuba spielt nie schneller als der Mensch geht.» Was uns hier mitgegeben werden möchte, bleibt völlig unverständlich.
Am Ende verkriechen sich die ProtagonistInnen im grünen Kleidersumpf am Boden. Nur noch ihre Köpfe schauen raus, während sie über die Faktizität von Körpern und deren Auftreten an der Grenze philosophieren. Das ist ein schlauer Einfall, doch er geht unter in den zahlreichen Ideen, die völlig kontextlos dastehen, meist unentschlossen angerissen und zu oft für ein paar verdruckste Lacher im Publikum nicht zu Ende geführt werden.
Entpolitisiert fürs Lokalkolorit
Sowieso geht dieser Inszenierung jede grundsätzliche Ernsthaftigkeit ab. Die Vielstimmigkeit von Elmigers Text hat die neue Hausregisseurin des Theater Basel Julia Hölscher äusserst naheliegend auf die schemenhaften Figuren verteilt. Dramaturgin Katrin Michaels hat den Text gebügelt, die Pointen-sichersten Sätze drin gelassen – und scheinbar jede einzelne Passage in der Basel eine Rolle spielt auch. Manchmal beschleicht einem so der Eindruck, dass man hier mit viel Lokalkolorit günstig Sympathien einheimsen wolle.
Das Politische, das im Text unübersehbar angelegt ist, blitzt nur äusserst selten auf. Angesichts der Zuspitzung der Flüchtlingskrise in diesem Sommer und Theatern, die ihre Garderoben zu Heimen umfunktionieren, ist das ein unverzeihlicher Makel dieser Inszenierung. Nachdem zum Saisonanfang mit grosser Kelle angerührt und dem noch grösseren Vorbild Dürrenmatt hantiert wurde, bleibt wenig gesellschaftliche Relevanz des Selbstanspruchs übrig.
Statt sich thematisch festzulegen und sich auf die assoziative Sprache des Textes zu verlassen, muss in dieser hyperaktiven Inszenierung immer was passieren. Als könnte man dem Publikum, weder die Schwere des Migrationsdiskurses, noch längeres Zuhören zumuten. Es bleibt der Eindruck der Parallele zur Konvertierung ins MP3: «Verlustbehaftete Kompression». Die leisen Töne fallen unter den Tisch. Es bleiben die lauten, damit sie auch alle hören. Mitnehmen kann man daraus trotzdem kaum etwas.