Berührender Reigen der Unglückseligkeit

Der ungarische Regisseur Victor Bodó inszeniert den Tschechow-Klassiker «Die Möwe» als ungekünstelter Reigen der Unglückseligkeit. Und mit einem Ensemble, das den knapp dreistündigen Abend mit viel Leidenschaft füllt.

Schatten ihrer selbst: Inga Eickemeier, Ariane Andereggen, Gabor Biedermann und Vincent Leittersdorf in «Die Möwe» (Bild: Judith Schlosser)

Victor Bodó inszeniert Tschechows «Die Möwe» am Theater Basel als berührender Reigen der Unglückseligkeit.

Höchstwahrscheinlich wird der Lehrer oder die Lehrerin die Schulklasse nach dem Aufführungsbesuch fragen, wie Anton Pawlowitsch Tschechow denn dazukam, seine «Möwe» als Komödie zu bezeichnen. Die Antwort dürfte den Schülerinnen und Schülern, die Victor Bodós fast dreistündiger Inszenierung im Basler Schauspielhaus höchst aufmerksam und konzentriert gefolgt sind, nicht so leichtfallen. Denn dem ungarischen Regisseur scheint nicht allzu viel daran gelegen zu sein, den zarten und zum Teil auch etwas beissenden Spott, mit dem Tschechow seine Verliererfiguren beschreibt, herauszustreichen. Die Flugbahn seiner «Möwe» führt ziemlich gradlinig hinunter in die schmerzlichen Abgründe der Unglückseligkeit.

Mit einem kleinen Umweg über die Komik allerdings. Die Privatvorstellung, zu welcher der ehrgeizige, aber nicht sonderlich begabte Möchtegern-Autor Kostja die Gesellschaft auf dem Gutshof lädt, kommt als schauerlich effektüberladene Performace-Parodie mit Ausdruckstanz, entblössten Brüsten, Bodypainting, Windmaschine und musikalischen Disharmonien daher. «Das also ist die freie Szene», wirft Kostjas Mutter Irina, der gefeierte Theaterstar aus der Hauptstadt, verächtlich ein (bei Tschechow heisst es eigentlich: «Das ist sowas Dekadentes»). Diese Intermezzo macht bereits ziemlich bald nach Beginn klar: Das Theaterexperiment findet in dieser Tschechow-Inszenierung lediglich als Stück im Stück statt.

 «Aus Trauer um mein Leben»

Victor Bodó geht es ums wahre Leben, um die selischen Abgründe, in die sich die Figuren auf der Bühne nicht ganz unverschuldet hinunterziehen lassen. Wenn die Lehrerfigur auf der Bühne seine angebetete Mascha fragt, warum sie denn immer Schwarz trage, bekommt er zur Antwort: «Aus Trauer um mein Leben. Ich bin unglücklich.» Dies ist so etwas wie die Grundaussage des Stücks und auch Motto der Inszenierung, welche die Figuren in einem feingesponnenen Gewebe zwischen der banalen Wirklichkeit und den unerfüllten Sehnsüchten zappeln lässt.

Der Lehrer Medwenko also liebt Mascha. Dass die junge Frau die Liebe zu diesem ewig jammernden Waschlappen nicht erwidert, ist nachvollziehbar. Aber auch Mascha ist verliebt. Sie sehnt sich unsterblich nach Kostjas Zuneigung, dieser aber liebt Nina, die wiederum dem berühmten Schriftsteller Trigorin verfallen ist, der eigentlich der Freund von Kostjas Mutter Irina ist, letztlich aber wie seine Partnerin nur sich selber liebt. Damit ist der Reigen der Unglückseligkeit aber noch nicht zu Ende: Da gibt es noch Polina, die Frau des Gutsverwalters: Sie liebt den Arzt Dorn, der sich als in die Jahre gekommener Frauenheld aber nicht mehr auf eine Einzelbeziehung einlassen mag. Und es gibt den angegrauten Gutsherrn Sorin, der Zeit seines Lebens ungeliebt geblieben ist und sich zum schrulligen Jungesellen entwickelt hat. Einzig der rüpelhafte Gutsverwalter Ilja bleibt beim unglücklichen Liebesreigen aussen vor.

Schauspielertheater

Regisseur Bodó, der auch für das aus einem möblierten Baugerüst bestehende Ausstattung verantwortlich zeichnet, vertraut auf die Ausdruckskraft des Ensembles auf der Bühne, das er mit feiner Hand durch das Jammertal des Geschehens führt. Und dies mit Erfolg, wie das Resultat zeigt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler schaffen es, die eigentlich überschwenglichen Gefühlswelten so über die Rampe zu bringen, dass sie wirklich berühren und nicht zur Rührseligkeit verkommen.

Stark sind die Frauenfiguren: Joanna Kapsch zum Beispiel, die als Nina das Herz und später den Schmerz zuvorderst auf der Zunge trägt, die mit strahlend leuchtenden Augen schwärmen kann und schliesslich mit finsterem Blick nahe am Wahnsinn vorbeischrammt. Oder Inga Eickemeier als Mascha, die trotzig lachend und verzweifelt weinend zugleich das Elend der unerwiderten Liebe erfolglos zu verdrängen versucht. Da ist Ariane Andereggen als Irina, die sich mit eiskaltem Hochmut verzweifelt an ihrer verflossenen Jugendlichkeit festzukrallen versucht und Claudia Jahn als Polina, die mit steifer Haltung dagegen ankämpft, dass sich ihr Körper vor Seelenschmerz krümmt.

Selbstverachtung und Verzweiflung

Im Zentrum des Geschehens aber steht Kostja. Julian Hackenberg füllt diese Figur mit einem ergreifenden und zugleich unberechenbaren Mix aus Larmoyanz, Selbstverachtung und nackter Verzweiflung. Die immense Anspannung, die sein ganzes Tun beherrscht, wird im Zuschauerraum beinahe physisch spürbar. Kostjas Gegenpol ist der Gutsherr Sorin. Vincent Leittersdorf spielt diese Figur als rührend-komischer Kauz, der mit melancholischer Selbstironie und zerzausten Haaren seinem Lebensende entgegenschlurft.

Dagegen erscheint der Lehrer Medwedenko (Frederik Göke), der nicht aufhört, über seine missliche finanzielle Situation zu klagen, etwas eindimensional gebaut zu sein. Dass er mit Dauerlauf- und Glimmzugeinlagen beweisen kann, dass er immerhin körperlich noch etwas draufhat, wirkt letztlich etwas seltsam. Bleiben der Schriftsteller Trigorin (Gabor Biedermann) und der Arzt Dorn (Florian Müller-Morungen), die das traurige Geschehen mit mehr oder weniger zynischer Distanz an sich vorüberziehen lassen, sowie der Gutsverwalter Schamrajew (Christian Heller), der als rüpelhafter Störenfried dazwischenfunkt.

Salonmusik als Gegenpol

Regisseur Bodó vertraut, wie erwähnt, auf die Ausdruckskraft seines Ensembles auf der Bühne, lässt die Schauspielerinnen und Schauspieler aber zum Glück nicht im ungeordneten Bahnen zappeln. Soviel Gefühlswallung allein, wäre ja auch kaum zu ertragen. Und mit einem zweiköpfigen Salonorchester (Nitzan Bartana und Klaus von Heydenaber) schafft er ein musikalisches Gegenstück zum zwischenmenschlichen Elend an der Rampe. Mit Walzerklängen und Musikstücken, die an Stummfilmbegleitungen erinnern, setzt er das aufgewühlte Geschehen vor einen entspannten akustischen Hintergrund. Und die Zeitsprünge zwischen den Aktwechseln visualisiert er mit reizvoll-ästhetischen Schattenspielereien.

Mit fast drei Stunden dauert die aktuelle Basler «Möwe» länger, als die meisten Schauspielinszenierungen der jüngeren Vergangenheit. Aber so stimmungsvoll und berührend gespielt, wird einem die Zeit im Zuschauerraum nicht allzu lang. Und man ist auch beinahe soweit zu vergessen, wie unbequem die Sitze im Schauspielhaus doch eigentlich sind.

 

«Die Möwe»
von Anton Tschechow
Regie und Bühne: Viktor Bodó, Kostüme: Fruzisna Nagy, Musik: KLaus von Heydenaber
Mit: Ariane Andereggen, Julian Hackenberg, Vincent Leittersdorf, Joanna Kapsch, Christian Heller, Claudia Jahn, Inga Eickemeier, Gabor Biedermann, Florian Müller-Morungen, Frederik Göke und Klaus von Heydenaber, Nitzan Bartana (Musik)
Die nächsten Vorstellungen: 27. September, 2., 3., 6., 9., 27. Oktober
Theater Basel, Schauspielhaus

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