Bitte nach der Lektüre verbrennen!

Bücher sind normalerweise dazu da, die Zeit zu überdauern. Nicht bei der Künstlerin Anicka Yi. Sie hat für die Kunsthalle ein Buch konzipiert, das der Käufer verbrennen soll.

Die Künstlerin Anicka Yi in der eigenen Ausstellung.

(Bild: Philipp Hänger)

Bücher sind normalerweise dazu da, die Zeit zu überdauern. Nicht bei der Künstlerin Anicka Yi. Sie hat für die Kunsthalle ein Buch konzipiert, das der Käufer verbrennen soll.

Kaum ein aufsteigender Stern am internationalen Kunsthimmel, schon versucht die New Yorker Künstlerin Anicka Yi (*1971 in Seoul) ihre Kunstproduktion der letzten fünf Jahre in einer eigens dafür konzipierten Ausstellung in der Kunsthalle Basel vergessen zu machen. Welche Strategie verfolgt sie dabei und weshalb gelingt es ihr, genau damit das Wesen ihrer Werke auf den Punkt zu bringen?

Die Idee vom Vergessen des bisherigen Werkes entstand zunächst in Form eines olfaktorischen Ausstellungskatalogs, der nach der Lektüre verbrannt werden sollte. Anicka Yi entwickelte gemeinsam mit einem Parfümeur einen Duft, der für sie den Geruch des Vergessens verkörpert. Damit wurde das Katalogpapier parfümiert, das beim Blättern den Duft freisetzt. Nach der Lektüre fordert Yi den Leser dazu auf, den vollständig brennbaren Katalog anzuzünden und so am Vergessen des Werkes aktiv mitzuwirken.

Den Duft selbst kann der Besucher im dritten Ausstellungsraum erschnuppern, wo er im Innern einer Waschtrommel zu riechen ist. Er ist schwer beschreibbar, nicht nur, weil beim aktiven Riechen unser Sprachzentrum vorübergehend ausgeschaltet wird, sondern auch, weil die einzelnen Duftnoten miteinander verschwimmen, so dass keine der Komponenten besonders herauszustechen scheinen, die man beschreiben könnte. Oder, mit Anicka Yis Worten, man vergisst den Geruch des Vergessens.



Anicka Yi, The Last Diamond (2015)

Eine duftende Waschtrommel. (Bild: Philipp Hänger)

Aus dieser olfaktorischen Werkmonografie heraus entstand die Ausstellung als vollständig neuer Werkkorpus, der seinerseits vielfältige Bezüge zu den realisierten Arbeiten der letzten fünf Jahre aufweist.

Für Ausstellungsbesucher, welche mit dem bisherigen Werk vertraut sind, entstehen so zahlreiche Überlagerungen der Eindrücke von den neuen mit denjenigen der vergangenen Werke – so dass man womöglich in der eigenen Erinnerung Werke miteinander verwechselt oder nicht mehr ganz sicher ist, welches Werk welche Eigenschaften hatte.

Gezieltes Vergessen

In dieser Überlagerung ähnlicher und doch unterschiedlicher Eindrücke verwendet Yi die einzig wirksame Strategie, etwas gezielt vergessen zu können. Wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, können wir nicht bewusst vergessen. Das Vergessen geschieht leider immer ohne unser Zutun. Die einzige Möglichkeit, willentlich zu vergessen, hat Umberto Eco in seiner «Ars Oblivionalis», in seiner Kunst des Vergessens, als flächendeckendes Rauschen beschrieben: Indem man zahlreiche ähnliche und dennoch nicht ganz deckungsgleiche Informationen nebeneinander stellt, vergisst man letztlich, worin die ursprünglich verbindliche Information bestanden hatte, und alle Erinnerungen werden gleich relevant, bzw. gleich irrelevant.

Bereits der Ausstellungstitel «7,070,430K of Digital Spit» erinnert an eines der ersten Werke Yis, «235,681K of Digital Spit», von 2010. Sie multiplizierte den dafür veranschlagten Energielevel von über 200’000 Kilobytes mit den fünf Jahren, die hinzugekommen waren, mit den fünf vergangenen Ausstellungen und den fünf Räumen der Kunsthalle, um so zu einem digitalen Energieäquivalent für die zu vergessenden Arbeiten von über 7 Millionen Kilobytes, einem knappen Gigabyte, zu gelangen.



Anicka Yi, Installation view 7,070,430K of Digital Spit

Ein Blick in die Ausstellung. (Bild: Philipp Hänger)

Für «235,681K of Digital Spit» von 2010 legte sie einen Kuhmagen in Haargel ein und platzierte ihn in einer durchsichtigen Longchamp Handtasche. In der seriellen Arbeit «Shameplex» im ersten Ausstellungsraum der Kunsthalle findet sich nun die gallertartige Masse des Haargels als künstlich riechendes Ultraschallgel wieder, das in sieben grosse Plexiglaswannen ausgestrichen wurde und im verdunkelten Raum grünlich aus den rechteckigen Wannen hervorschimmert. In den weichen Untergrund der Gelmasse wurden unzählige kleine Metallstifte in verschiedenen Konstellationen gesteckt, deren Köpfe im spärlichen Licht reflektieren, ebenso wie die unzähligen kleinen, im Gel eingeschlossenen Luftbläschen.

Hier scheinen die Deutungsmöglichkeiten, die uns das Werk anbietet, geradezu zu explodieren: So findet sich, je nach dem individuellen Erinnerungshorizont des Betrachters, in den multiplen rechteckigen Wannen der Bezug zur Geschichte der Skulptur in der Minimal Art eines Donald Judd, oder sie sind als Aquarien lesbar. Die Stifte, die ihrerseits an die Nagelbilder Günther Ueckers denken lassen könnten, bilden Figuren wie Wolkenkonstellationen, oder auch ein Ur-Alphabet, eine universelle Sprache, ganz zu schweigen von der Ebene der Titelgebung, die immer noch weitere Bedeutungszuweisungen eröffnet. Keines dieser Angebote bringt jedoch wirklichen Aufschluss über das, was da ist: das Werk an sich und die Verwendung seiner Materialien.

So haben die ersten Metallstifte bereits begonnen, ihre Rostspuren im Untergrund zu hinterlassen. Die Feuchtigkeit des Ultraschallgels fördert den Oxidationsprozess des Metalls, so dass sich die Bilder im Lauf der Ausstellung wohl zunächst immer deutlicher von ihrem Grund abheben werden, bis hin zu ihrer Unkenntlichkeit – wir werden sehen.

Experimenteller Ansatz

Anicka Yi bestimmt präzise das Setting eines Werkes, um es dann dem Prozess, welchen die Materie durchläuft, zu überlassen, ohne zu wissen, ob danach noch ein Werk da sein wird. Sie verfolgt damit einen genuin experimentellen Ansatz. Das lässt an die Kunstströmung der Künstlerin als Bastlerin denken, wo man das Experimentelle in der Kunst vielleicht zuerst verorten würde. Yi ist jedoch weniger eine Bastlerin als eine Forscherin über die Verfassung des Körpers im Zeitalter der digitalen Speicherkapazitäten.

Das Körperbild, dass sie gegen ein Vergessen des Körpers in der digitalen, körperlosen Welt zur Disposition stellt, beruht im Wesentlichen auf drei Elementen: dem Geruchssinn, wie mit dem Duft des Vergessens, dem Nahrungskreislauf und die darin involvierten bakteriologischen und fungiziden Mikroorganismen, wie in Tausenden mit Tempura fritierten Blüten der Arbeiten des letzten Ausstellungsraumes, oder den Bakterienbildern. Und schliesslich der hospitalisierte Körper, wie in dem Ultraschallgel, oder Werken wie «Middle East Medical», mit einer skulpturalen Anlehnung an Laborstative und Krankenhauströpfe. Es handelt sich um wesentliche Punkte, die einen physischen Körper im Gegensatz zu einer virtuellen Existenz ausmachen und die einen wichtigen Aspekt unseres Zugangs zum Körper über dessen wissenschaftliche Zerlegung und Durchleuchtung deutlich machen.

Gleichzeitig arbeitet sie, wie bereits bei «235,681K of Digital Spit», das etwa an den in Formaldehyd eingelegten Hai Damien Hirsts denken lässt, mit multiplen Assoziationen, die einen unabschliessbaren Gedächtnisraum für jedes ihrer Werke eröffnen. Die Arbeiten verweigern sich durch dieses übergrosse Angebot an möglichen Referenzen aus Kunst und Alltag viel widerständiger als andere Werke einer Bedeutungszuweisung.



Anicka Yi, Odor in the Court (2015)

(Bild: Philipp Hänger)

Zwischen den beiden Polen von Ambiguität und Vergänglichkeit entwickeln die Werke ihre Spannkraft und ihre Aktualität: in ihrem hartnäckigen Streben nach Ambivalenz auf der Ebene der Bedeutung und ihrer schonungslosen Experimentalität durch die Vergänglichkeit und Unberechenbarkeit ihrer Materialität entstehen Werke von einer radikalen Offenheit, die ihresgleichen sucht.

Nach dieser Zäsur, wo die verbliebenen Werke selbst am vergehen sind, der Katalog dazu verbrannt und die Erinnerung daran durch ein flächendeckendes Rauschen ersetzt wurde, dürfen wir gespannt sein, wie sich die Kunst Anicka Yis weiter entwickelt und was wir als nächstes zu sehen bekommen.

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«Anicka Yi: 7,070,430K of Digital Spit – A Memoir», 12. Juni bis 16. August, Kunsthalle Basel.
Ausstellungskatalog: Anicka Yi: «7,070,430K of Digital Spit – A Memoir», hrsg. v. Elena Filipovic, Kunsthalle Basel 2015, ISBN 978-3-85562-032-6, 250.- CHF.

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