Bitte setzen, wir erklären Ihnen jetzt mal Design

Design ist nur was für Ästhetikfuzzis? Eben nicht. Zeit für eine Klarstellung.

Eben nicht nur ein gelber Schirm auf Asphalt: Symbol der Hongkonger Unruhen 2014. Und durchdachtes Design.

(Bild: Reuters/Tyrone Siu)

Über Design denkt man nur nach, wenn es einem direkt ins Gesicht lacht. Im skandinavischen Design-Laden beispielsweise, im Vitra-Shop oder in der «Hat das Stil?»-Kolumne der «NZZ am Sonntag»: Wo soll hier bitte ein Salatblatt, geschweige denn eine Tomate Platz finden? Das soll ein haushaltstauglicher Stuhl sein? Wen interessiert dieser Plunder
Design, so eine weit verbreitete Ansicht, ist etwas für die Mehrbesseren, die Schöngeister mit ihren Philippe-Starck-Orangenpressen und Coffee-Table-Büchern, die sie einmal platzieren und dann nie mehr anschauen.

In dieser Auffassung ist Design nichts weiter als überschätzte Dekoration. Unpraktische Funktionsware, die so tut als wäre sie Kunst, damit sie ähnlich überteuert daherkommen darf. 

«Eben nicht!» Matylda Krzykowski schüttelt den Kopf. Die Designerin und Betreiberin des Depot am Voltaplatz hat diese Diskussion schon gefühlte hundert Mal geführt. «Natürlich gibt es kapitalistisch getriebenes Design, solches, das dazu da ist, einen Raum zu verschönern und sich zu verkaufen. Aber der Grundgedanke von Design ist ein ganz anderer.»

Nämlich?

Der italienische Designer Giulio Iacchetti bringt es im Video «What is Design?» eines holländischen Design-Kollektivs auf den Punkt: «Der Mensch wünscht sich Einfachheit. Komplexität mag er nicht. Und genau darin liegt unsere Arbeit: Wir finden Lösungen für komplexe Dinge und machen sie einfacher, einsatzfähiger, näher an unserem Leben.»

Designer als Problemlöser also, als Menschen, die unsere Leben vereinfachen? Krzykowski nickt. Aber eigentlich geht es ihr gar nicht so sehr um die Designer, sondern vielmehr um das, was sie designen. Und zwar eben nicht das Rolf-Benz-Sofa oder den Frank-Gehry-Stuhl, sondern die ganz alltäglichen Sachen.

«Alles um uns herum ist gestaltet, Design ist überall!», sagt Krzykowski und zeigt auf die Bank auf der wir gerade sitzen. «Diese Bank ist das Resultat vieler Entscheidungen, jeder Zentimeter von ihr wurde entworfen und für diesen Ort geschaffen. Sie ist nicht nur eine Bank, sie ist ein Teil davon, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen.»

Konkret bedeutet das:

Die Welt wird durch das definiert, was in ihr steht. Das ist einerseits Natur (die wiederum für unsere Bedürfnisse in Schranken verwiesen wird – was auch als Design gelten könnte) und andererseits von Menschenhand Geschaffenes. Design fängt dabei schon da an, wo sich jemand Gedanken macht: Was sollte hier stehen? Wieso? Welche Funktion hat es? Wie entwerfen wir dieses Ding so, dass es seine Funktion so simpel wie möglich ausführen kann?



Nur Bank? Mitnichten.
Nur Bank? Mitnichten. (Bild: Naomi Gregoris)

Für das Bank-Beispiel heisst das: Hier müssen die Menschen auf den Bus warten. Menschen sind schnell erschöpft, sie werden sich also setzen wollen. Es braucht eine Bank. Es braucht eine stabile Bank, sie muss wetterfest sein und Rabauken standhalten. Dann muss sie ins Stadtbild passen, sich einfügen, die Show nicht der hübschen Kirche stehlen, die hinter ihr steht. Und so weiter. Die Bank ist nicht nur eine Bank. Die Bank ist Design.

Somit hätten wir den ersten Trugschluss aufgelöst. Aber Design zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es omnipräsent und massgeblich unsere Umgebung gestaltet. Design kann auch weiter gehen. Und genau deshalb sitzen Krzykowski und ich auf dieser Bank und warten auf einen Bus.

Design hat spürbar mehr mit der Gesellschaft zu tun, als wir annehmen.

Der Bus bringt uns ins Vitra-Museum, in die aktuelle Ausstellung, die in der Galerie neben der grossen Alexander-Girard-Show stattfindet: «Objection! Protest by Design» heisst sie passend und dreht sich genau um jenen Moment, in dem Design spürbar mehr mit der Gesellschaft zu tun hat, als wir im ersten Moment annehmen.

Als Beispiel nimmt der Kurator Michael Leung die Hongkonger Demonstrationen von 2014, auch bekannt als die «Regenschirm-Revolution». Tausende von Menschen demonstrierten hier gegen angekündigte Wahlreformen und funktionierten dabei Alltagsgegenstände zu Barrikaden, Unterschlüpfen und Skulpturen um.



«Design ist eine kreative Übersetzung»: Designerin Matylda Krzykowski in der aktuellen Ausstellung der Vitra-Galerie.
«Design ist eine kreative Übersetzung»: Designerin Matylda Krzykowski in der aktuellen Ausstellung der Vitra-Galerie.

Branding ist alles

Symbol für die Demonstration wurden die gelben Regenschirme, die gegen die Tränengasattacken eingesetzt wurden und bereits nach kurzer Zeit als «Marke» der Revolution fungierten. «Wir wussten: Wenn diese Bewegung durchhalten will, muss man sie branden», sagt Leung in einem Video am Eingang der Ausstellung. Ohne ein verbindendes Element hätte die Protestbewegung nie so lange funktioniert. Und in diesem Fall hiess das verbindende Element Design.

Genau dieser Moment des Erfinderischen mache Design aus, meint Krzykowski. «Es ist eine kreative Übersetzung: Wie kann ich mir mit dem, was ich habe, helfen?» Sie erzählt von einer ähnlichen Situation in Istanbul während der Proteste gegen die Umbaupläne für den Gezi-Park 2013: Da bastelten sich die Demonstranten aus Petflaschen Gasmasken als Schutz gegen Tränengasattacken:

Anleitung zur Istanbuler Gasmaske, rekonstruiert vom Victoria & Albert Museum.

Anleitung zur Istanbuler Gasmaske, rekonstruiert vom Victoria & Albert Museum.

Für Schutzmassnahmen der anderen Art setzte sich in den 1960er-Jahren auch Alfred Heineken ein: Der holländische Bierbrauer hatte die Idee, ziegelförmige Flaschen zu fabrizieren, die als Bausteine für Häuser in armen Gegenden weiterverwendet werden sollten. Darauf entwarf der Architekt John Habraken die Heineken WOBO (World Bottle): klobige Flaschen, die man rutschfest aufeinanderstapeln konnte.

Damit hätte Heineken zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen – er konnte den Konsumenten sein Bier und ein gutes Gewissen verkaufen und er tat etwas Sinnvolles für die Dritte Welt. Leider ging die World Bottle aber nie in Serie.

Aktuellstes Beispiel für umfunktioniertes Design ist im Moment Floor Nagler: Die Holländerin reiste als Volontärin nach Lesbos und bemerkte die Unmengen an Material – Schlauchboote und Schwimmwesten –, die am Strand liegen blieben, nachdem die Flüchtlinge angekommen waren.

Sie machte sich mit Schere, Lochzange und Nietpistole ans Werk – und bastelte aus dem hinterlassenen Material robuste Rucksäcke, die sie jetzt an die Flüchtenden verteilt. Die Rucksäcke sind schnell gemacht und kosten pro Stück gerade mal drei Dollar:

Anstatt das nächste Mal also genervt in der Stil-Beilage der «NZZ am Sonntag» zu blättern, sollten wir die lieber weglegen und den Blick auf die Welt um uns herum richten. Davon ist vieles ineffiziente Funktionsware, ohne Frage. Noch mehr ist Plunder. Aber nichts ist ohne Grund und Geschichte, und alles – ohne Ausnahme – ist Design.

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«Objection! Protest by Design», Vitra Design Museum Gallery, noch bis 29. Mai 2016.

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