Blutige Schlacht, mutige Stimmen

Vor vierzig Jahren schlossen Gangster in der Bronx Frieden und schlugen sich fortan Reime um die Ohren. Ein ehemaliger Gang-Boss, eine Gangsterbraut und ein junger Rapper begleiten uns durch New Yorks berüchtigtsten Stadtteil.

Szene aus der Südbronx in den frühen 70er-Jahren. Ein Quartier am Boden, für Luftsprünge bedurfte es alter Bettfedern. (Bild: zVg)

Vor vierzig Jahren schlossen Gangster in der Bronx Frieden und schlugen sich fortan Reime um die Ohren. Ein ehemaliger Gang-Boss, eine Gangsterbraut und ein junger Rapper begleiten uns durch New Yorks berüchtigtsten Stadtteil.

Auf einer Schutthalde hüpfen Kinder auf den Bestandteilen eines weggeworfenen Betts herum. Ein Bub hat auf der blossgelegten Federung genug Schwung für einen Salto aufgebracht. Im Moment der Aufnahme hängt er kopfüber in der Luft, und es ist unklar, ob er gleich auf den Kopf fallen oder auf den Füssen landen wird. «Genau so sah meine Jugend aus», sagt Lorine Padilla. Der Schnappschuss hängt im Wohnzimmer der heute 56-Jäh­rigen – ein altes Foto.

Lorine Padilla war 14, als ihre Mutter 1970 mit ihr und den sechs Geschwistern von Spanish Harlem in die Südbronx zog. «Als ich aus der U-Bahn stieg, dachte ich, ich hätte mich in ein Drittweltland verirrt», erinnert sie sich, «ich konnte kaum glauben, dass meine Mutter uns hierher brachte.»

«Die Südbronx sah in den 70er-Jahren aus wie Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg», sagt Benjamin Melendez, froh, einen so eindrücklichen Vergleich gefunden zu haben. Lorines Foto ist auch ein Sinnbild für seine Jugend. Der 59-Jährige führt uns durch die Strassen seiner Teenager-Jahre rund um die Prospect Avenue, die wenig gute Aussichten versprach, als er als 11-Jähriger mit seiner Familie hierherkam.

Trümmerlandschaft in New York

Melendez’ und Padillas neues Zuhause lag damals in Schutt und Asche. Die Heizungen heizten nicht, die Wasserleitungen führten kein Wasser, die Müllmänner transportierten keinen Müll ab. Ratten überall. Die Arbeitslosenquote war hoch, das Gesundheitssystem eine Katastrophe. «Das Spital war der beste Ort, falls man gekommen war, um zu sterben», sagt Melendez.

Sicher war man nirgendwo: Ständig brannten Häuser. Slumlords heuerten Brandstifter an, um die Versicherungspolice für ihr ansonsten unprofitabel gewordenes Haus einzukassieren. Es war ein derart alltägliches Ereignis, dass Kindergartenkinder ein Haus oft mit einer Flamme auf dem Dach malten und Familien in den Schuhen schliefen, um im Notfall rasch ins Freie rennen zu können.

Für Schweizer Augen sieht es in diesem Teil der Südbronx heute noch dreckig und trostlos aus. Wenig Menschen, viel Verkehr, eine überirdische U-Bahn auf rostigen Stehlen, eine abfallbestreute Wiese, ein Schild, das vor Ratten warnt, versprayte Fassaden.

Trotzdem ist Melendez begeistert von diesem Quartier, das sich sehr verändert habe. «Es ist so ruhig hier!», ruft er. «Wir können einfach so durch diese Strassen spazieren, und uns passiert nichts! Schau mal, wie schön diese Häuser sind!» Er zeigt auf einen Wohnblock aus Backstein. Seit den 90er-Jahren ersetzen diese Mietshäuser mit Platz für 40 bis 100 Wohnungen die Bauruinen. Die Südbronx wird geflickt. «Die neuen Häuser bringen etwas wohlhabendere Leute in die Bronx», sagt er.

Mittelständige lebten hier schon einmal, bis Ende der 1950er-Jahre eine neue Autobahn die Bronx auseinanderriss. Die Bulldozer zwangen 60 000 Einwohner ihre Häuser aufzugeben. Zehntausende folgten, weil die Lebensqualität drastisch sank und ihr Grundeigentum an Wert verlor. Zurück blieb, wer sich keinen besseren Wohnort leisten konnte. Dazu stiessen mittellose Emigranten: Tausende von Puertoricanern wie Melendez’ und Padillas Eltern sowie viele Afroamerikaner.

Die Trümmerlandschaft der Südbronx wurde in den 60er-Jahren zum Tummelfeld gewälttätiger Gangs. Black Spades, Savage Nomads, Seven Immortals, Young Sinners – von «250 bis 300 Gangs, mit mehr als insgesamt 20 000 Mitgliedern» ist im Buch «Born in the Bronx» von Johan Kugelberg die Rede.

«Schlägereien, Schiessereien und Drogenhandel waren allgegenwärtig», sagt Padilla. Ehe sie sich versah, war sie selber mitten drin: Als sie mit 15 ihren Bruder im Gefängnis auf Rikers Island besuchte, begegnete sie dem Anführer der Savage Skulls. Mit 16 heiratete sie ihn. Sie war nicht nur Mitglied einer Gang, sondern die Braut des Anführers – und stolz darauf.

Die Trennlinien zwischen den Gangs bildeten Strassenblöcke und Ethnien. An der 163. Strasse sagt Melendez: «Das war unser Revier». Er war 14, als er 1967 seine eigene Gang gründete: die Ghetto Brothers. Sie entwickelte sich rasch zu einer der grössten New Yorks, mit rund 2500 Mitgliedern allein in der Bronx.

Am Anfang stand Selbstverteidigung im Vordergrund, doch bald herrschten Kleinkriege unter den Gangs, Prügeleien endeten zunehmend in Tötungen. Die Zahl der Morde vervierfachte sich von 1960 bis 1971. «Ich habe das Haus stets mit dem Gefühl verlassen, dass es der letzte Tag meines Lebens sein könnte», erzählt Benjamin Melendez.

Friedensstifter statt Warlord

Er war zwar selber Anführer, aber war kein Freund der Gewalt, wollte mit seinen Kumpels vor allem Spass haben und Musik machen und etwas für sein Quartier tun. «So entwickelten wir uns allmählich von einer Gang zu einer Organisation», erzählt er. «Wir gaben armen Leuten Essen, verbrannten Abfall, beschützten Bewohner, versuchten Drogensüchtige von ihrer Sucht wegzubekommen. Prostituierten brachten wir Kaffee und bewegten sie höflich dazu, sich woanders hinzustellen.» 1971 rekrutierte Melendez gar einen Friedensstifter anstelle der sonst für Gangs üblichen Position des Warlords.

Auf dem obersten Absatz einer langen steinernen Treppe, die durch einen Park namens Horseshoe Playground führt, hält Melendez inne: «Hier geschah es», sagt er, «hier sollte eigentlich ein Gedenk-Graffito stehen.» Am 2. Dezember 1971 sah man von hier oben, dass sich unten auf der Strasse von drei Seiten Hunderte von Mitgliedern dreier Gangs einander näherten.

Die Ghetto Brothers beschlossen, ihren charismatischen Friedensstifter, Cornell Benjamin, genannt Black Benjie, dazwischenzuschicken. «Er traute sich das zu», sagt Melendez, «lief die Treppe hinunter, unbewaffnet, beide Arme in der Luft, die Finger zum Friedenszeichen geformt. «Peace», rief er, bei den Gangs angekommen. «Peace shit!», erwiderte einer der Gangster und zückte eine Eisenstange.

Benjie, der den Frieden bringen wollte, wurde von einer Meute zu Tode geprügelt; er starb noch am selben Tag im Spital an einem vierfachen Schädelbruch und Stichen im Oberkörper. Er war 25.

Die Ermordung des Friedensstifters brachte die Bronx zum Kochen, New York fürchtete die blutigste Zeit in der Geschichte dieses Stadtteils. «Die meisten meiner Ghetto Brothers wollten nur noch eines: Krieg», sagt Melendez. Er aber wollte den Frieden, jetzt erst recht. «Black Benjie soll nicht umsonst gestorben sein, wir müssen den sinnlosen Gewaltexzessen ein Ende setzen», trichterte er seinen Leuten ein. Eine Delegation der Ghetto Brothers besuchte die Mutter des Opfers, der Co-Präsident bot ihr Rache an: «Madam, ich habe eine Armee da draussen», sagte er, doch auch sie antwortete: «Benjie starb nicht für den Krieg, er starb für den Frieden.»

Aus Gangs wurden Crews

Nur eine Woche später, am 8. Dezember 1971, trafen sich sämtliche Gangleader im Madison Square Boys’ and Girls’ Club an der Hoe Avenue, um einen Friedensvertrag auszuhandeln. Melendez hatte sie alle zusammengetrommelt. Der einstige Gangster, ein bald 60-jähriger Familienvater mit schütterem Haar und Bauchansatz, führt uns da hin und stellt sich in die Mitte der Turnhalle. «Rundum sassen sie alle im Kreis, in der ersten Reihe die Gangster, in der zweiten die Sozialarbeiter, Journalisten und Kameraleute», sagt er und erinnert sich 40 Jahre zurück, als er eine mitreissende Rede für den Frieden und eine bessere Zukunft in der Bronx hielt.

Alte Videoaufnahmen zeigen einen schlanken Mann mit schwarzem Lockenkopf, der predigt: «All diese Kämpfe untereinander führen zu nichts, helfen niemandem, zuletzt uns selber.» Dieses erste Friedenstreffen sei in erster Linie eine Show für die ­Öffentlichkeit gewesen, räumt Melendez ein: «Später gingen wir von Gang zu Gang und führten mit allen Anführern individuelle Gespräche, bis einer nach dem anderen per Handschlag zum Friedensschluss einwilligte.»

Auf den Waffenstillstand folgte eine friedlichere Dekade. Plötzlich war es möglich, sich frei im Quartier zu bewegen, einander zu treffen, zusammen zu feiern, Musik zu machen, zu tanzen. Aus Gangs wurden Crews, aus Schlägern wurden Breakdancer, Rapper, MCs, Sprayer. Möglichst vor Dreck strotzend herumzulaufen war nicht mehr in. Die einstigen Gangster bürsteten sich jetzt ihre weissen Pumas mit der Zahnbürste.

«Battles» in Reimform

Die Aggressionen verschwanden nicht von einem Tag auf den anderen, doch sie entluden sich nun auf der Tanzfläche – oder auf der Strasse, die zur Tanzfläche umfunktioniert worden war. «Wir schleppten Plattenkoffer und einen Lautsprecher an einen Ort im Freien. Dort zapften wir Strom von den Strassenlaternen ab und schlossen unsere Anlagen an. Dann legte ein DJ eine Platte auf, ich ergriff ein Mikrofon und erzählte, was mich beschäftigte», erzählt Hip-Hop-Pionier Melle Mel in einem Interview.

Da kratzte einer, der heute als Grandmaster Flash bekannt ist, heimlich im Keller auf der Plattensammlung seines Vaters herum – und soll so DJ-Techniken wie das Cutting und Back-Spinning erfunden haben. Dort lud ein anderer, heute als DJ Kool Herc bekannt, zu Partys im Gemeinschaftsraum seines Sozialwohnungsblocks – und erfand dabei die Breaks.

Afrika Bambaataa, Mitglied der Black Spades, verwandelte diese berüchtigte Gang in die friedliche Hip-Hop-Gemeinschaft Zulu Nation – und wurde weltberühmt. In der ganzen Bronx experimentierten Jugendliche mit Plattenspielern und Anlagen, die sie sich aus Elektroschrott zusammengebaut hatten.

Auch Melendez gab mit seiner Ghetto Brothers’ Band jeden Freitag Konzerte im Freien und nahm eine Platte auf: Latin, Rock und Soul. Die neue Mode, Hip-Hop und Breakdance, befremdete ihn. «Als wir die Jungs zum ersten Mal auf dem Boden drehen sahen, dachten wir, die Pfingstkirche sei hier», erzählt er. «Das ist jetzt der Stil, wurden wir belehrt.» Doch niemand konnte sich vorstellen, dass dieser neue Stil die Welt ausserhalb der Südbronx interessieren könnte, niemand hätte damals gedacht, dass sich Hip-Hop zu einer weltweit populären Musikströmung entwickeln würde.

478 Austin Place, Südbronx, ein Winterabend 2012. In einer menschenleeren Gasse dringt aus einem Türspalt Licht und Musik. Drinnen dreht sich Nelson Seda in Liegestützpositionen rasch im Kreis. Sein rotes Hütchen spickt fort, die rote Adidas-Jacke hat er ausgezogen, aber nur kurz, bis der nächste B-Boy tanzt, denn der buntbemalte Fabrikraum ist unbeheizt. Ein DJ legt auf. Rundum stellen junge Leute ihre meist selbstgemachten Waren aus. Im kleinen Hip-Hop-Kulturzentrum werden tagsüber Workshops aller Art geboten. Der Leiter des Zentrums, ein junger Mann mit wilden Rastalocken, erwähnt stolz: «Afrika Bambaataa war kürzlich hier.»

«Hip Hop lives»

Nelson Seda tanzt, rappt und stellt seine Kunst aus: auf Kartons, Papiersäcken und leeren Spraydosen. «Ich kann mir keine Leinwand leisten, also bemale ich so ziemlich alles, was mir in die Hände kommt», sagt er. «Hip Hop lives» steht auf einem Karton, «Graffiti will never die in the South Bronx» auf einer Dose. Daran glaubt der 20-Jährige fest. Er ist Präsident der lokalen Sektion der weltweiten Bronx Boys Crew, lehrt Kindern und Jugendlichen Hip-Hop und verdient mit seiner Graffiti-Kunst Geld – «kürzlich hat sogar ein privater Käufer aus London eines meiner Bilder gekauft.»

Hip-Hop sei in der Bronx nicht mehr so allgegenwärtig wie vor 40 Jahren, als sein Vater, ein Gangster mit puertoricanischen Wurzeln, dessen Aufkommen erlebte: «Aber es gibt noch immer Tausende Rapper, Sprayer, MCs und B-Boys. Überall auf der Welt, wo sich Jugendliche in Ghettos durchbeissen müssen, dort gibts auch Hip-Hop», sagt Seda, «richtigen Hip-Hop.»

Der «richtige Hip-Hop» spiele sich auf der Strasse ab, sei ein Lebensstil, sagt Seda. Der falsche Hip-Hop komme am Fernsehen und im Radio. Er ärgert sich über den Kommerz und sexistische, gewaltverherrlichende Texte. «Guter Hip-Hop ist positiv, gesellschaftskritisch, manchmal provokativ, aber nicht gewalttätig, er fördert Kreativität, nicht Konsum.»

Hoffnung und Träume

Wenn behütet aufgewachsene Rapstars sich heute in die Pose des gewaltverherrlichenden Gangsters werfen, so ärgert dies auch den einstigen Gangster Benjamin Melendez. «Es ist schrecklich, dass solche Typen die Jugendlichen negativ beeinflussen. Die haben überhaupt nicht verstanden, worum es geht.»

Dass der Friedensschluss vor 40 Jahren, der Hip-Hop überhaupt ermöglichte, in Vergessenheit geraten ist, bedauert er. Er hofft, dass im Sportsclub an der Hoe Avenue demnächst eine Tafel in Gedenken an Cornell Benjamin angebracht wird. Und träumt davon, ein Ghetto Brothers Peace Center in der Bronx eröffnen zu können.

Doch wurde nach dem Friedensschluss alles besser? Nein. «Die Situation beruhigte sich, die Musik brachte uns zusammen», sagt Lorine Padilla, «doch nach ein paar Jahren hatten wir denselben Dreck wieder; die Kämpfe, die Morde, die Drogen». Sie verlor zwei Brüder und eine Schwester an Drogensucht und Aids. Mehrere Freunde und deren Kinder seien erschossen worden. Jeden Tag fürchte sie um ihre sechs Kinder und elf Enkel, genau so wie damals.

Wenig Anlass für Optimismus

Wie um ihr recht zu geben, berichten die TV-Nachrichten im Hintergrund von Gewalttaten in der Bronx. «Ich versuche, optimistisch zu sein», sagt Padilla, «aber hier in der Bronx gibt es wenig Anlass dafür.» Ja, es gebe neue Gebäude, aber das sei auch schon so ziemlich alles, was für die Bronx in den letzten Jahren getan wurde.

Mit der Rezession steigt die Zahl der Gewalttaten wieder an, die Schulen sind schlecht, den Kindern mangelt es an Freizeitmöglichkeiten, die wenigen Förderprogramme reichen nirgends hin. Da lockt das lukrative Geschäft mit den Drogen. Und die Eltern sind laut Padilla oft drogen- oder alkoholabhängig, Sozialfälle oder arbeiten Tag und Nacht, um die horrenden Mieten zahlen zu können.

Sie selber habe grosses Glück gehabt, sich von ihrem gewalttätigen Mann gelöst und sich zur Sozialarbeiterin ausbilden lassen. Und ihre Kinder hätten von Frühförderprogrammen profitiert: «Sie haben gute Jobs, waren nie kriminell, es geht ihnen gut – das bedeutet alles für mich.» Lorine Padillas Kinder sind mit den Füssen auf dem Boden gelandet.

Beim Abschied sagt Lorine Padilla: «Darf ich dich noch um einen Gefallen bitten?» Klar. «Ruf mich bitte an, wenn du sicher zu Hause angekommen bist.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.03.12

Nächster Artikel