Das Theaterstück «Twenty Four» im Rahmen des Wildwuchs Extra-Festivals handelt vom Alltag Jugendlicher in der Psychiatrie. Die meisten Regieanweisungen stammen von jugendlichen Psychiatriepatienten selbst. Entstanden ist ein authentisches, witziges und zugleich nachdenkliches Stück.
Zeitvertrieb mit Kritzeleien.
(Bild: Jan Sulzer)Alltag in der Psychiatrie: Basteln und Cornflakes essen.
(Bild: Jan Sulzer)Die drei Performer (von links: Miro Caltagirone, Sarah Bahr und Wanda Wylowa) verleihen jugendlichen Psychiatriepatienten eine Stimme.
(Bild: Jan Sulzer)Glitzerndes Partykleid und knallende Ballone zum Schluss von «Twenty Four».
(Bild: Jan Sulzer)Auch Langeweile und Herumsitzen gehört zum Alltag in der Psychiatrie dazu: «Ein Sofa muss es unbedingt haben», so eine der Anweisungen fürs Bühnenbild.
(Bild: Jan Sulzer)Eine grosse Gruppe Jugendlicher, wohl gleich mehrere Schulklassen, strömt von der Tramhaltestelle zum Theater Roxy in Birsfelden, um sich die Premiere des Stücks «Twenty Four» anzuschauen. Blöde Sprüche, Witze, allgemeine Aufregung: Es ist eine laute, fröhliche Gruppe. Junge Menschen, die das ganze Leben vor sich haben – und jetzt dieses Stück über eben solche jugendliche Psychatriepatienten sehen werden. Jugend und Krankheit – es sind Themen, die ungern verknüpft, letztendlich oft verschwiegen und tabuisiert werden. Entsprechend still wird es auch im Zuschauersaal, nachdem die allgemeine Heiterkeit der Einstiegsszene verflogen ist.
«Man könnte ein wabbeliges Gehirn in einem Glas aufstellen auf der Bühne, und daneben ein gebrochenes Bein», sagt eine der beiden Schauspielerinnen. «Zum Vergleich. Um dem Publikum zu zeigen, dass es viel einfacher ist, ein Bein zu reparieren als ein kaputtes Hirn.» «Oder ein kaputtes Herz», fügt der Junge hinzu. Die anderen beiden Darstellerinnen lachen, lachen ihn für die kitschige Bemerkung aus.
Betroffene führen selbst Regie
Die drei professionellen Schauspieler auf der Bühne des Roxy Birsfelden folgen im Stück «Twenty Four» nicht etwa den Anweisungen der Regisseurin Deborah Neininger, sondern den Regieanweisungen und Texten von insgesamt 24 jugendlichen Psychiatriepatienten der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK). Verdeutlicht wird diese spezielle Methodik mit einem dramaturgischen Kniff: Die Darsteller verfolgen per Smartphone den vorgegebenen Text. Das Schauspiel wird durch die Schauspieler selbst immer wieder unterbrochen und angeleitet: «Da steht, es müssen Emotionen und Gefühle vorkommen, Ausbrüche, dass jemand die Kontrolle verliert.»
Das Material für das Stück hat Regisseurin Deborah Neininger während zwei Jahren durch Interviews und Workshops in der Jugendpsychiatrie der UPK gesammelt. Dabei hat sie sich auf das vermeintlich Belanglose konzentriert: «Ich habe die Jugendlichen zu ihrem Alltag in der Psychiatrie befragt», sagt sie. Die klassische Gesprächstherapie mache in der Regel nur eine Stunde täglich aus. Die restlichen 23 Stunden des Tages gelte es für die Patienten irgendwie zu füllen.
Vom Alltäglichen in die Tiefe
Anhand dieses Tagesablaufs tastete sich Neininger vorsichtig und mit der nötigen Sensibilität an die Lebensrealität der Jugendlichen heran: «Meine These ist, dass sich im Gespräch über alltägliche Dinge wie die Tagesstruktur viel Tiefliegendes offenbart.» Es sage einerseits viel über die Jugendlichen selbst aus, aber auch über das System, die Institution, in der sie leben.
Diese These hat sich bewahrheitet: Das Theater-Ensemble bringt das Spannungsfeld zwischen Alltag auf der einen und einschneidenden Schicksalen auf der anderen Seite überzeugend rüber. Es geht zum Teil um ganz «normale» Themen wie Liebe, Langeweile oder Musik. Und plötzlich, wenn man sich als Zuschauer an diese «Normalität» gewöhnt hat, huscht wieder ein Hauch von Wahnsinn über die Bühne: Ein junger Mann, der sein eigenes Bein im Arm schaukelt, als wäre es ein kleines Kind; «Persönlichkeitsstörung», kommentiert seine Kollegin monoton. Eine Darstellerin beginnt zu weinen, das Publikum lacht, bis die Szene ausartet. Die belustigte Stimmung weicht allgemeiner Beklommenheit.
Die Texte machen betroffen
Es sind Szenen, in denen man sich – mal mehr, mal weniger – selbst wiedererkennt. Dadurch wird die Grenze zwischen «gesund» und «krank» aufgeweicht. Und so schaut man nicht auf mitleidige, etwas voyeuristische Art auf die «armen Betroffenen», sondern fühlt sich als Zuschauer selbst betroffen von den Abgründen und Schattenseiten der menschlichen Psyche, die uns letztlich allen innewohnen.
Diese Wirkung kommt sicher auch daher, dass fast der gesamte Text sowie die meisten Bühnenbild- und Regieanweisungen von den jugendlichen Psychiatriepatienten selbst stammen. Diese Authentizität war von Beginn an Teil des Konzepts. Ein gewagter Schritt für eine Künstlerin? Deborah Neininger verneint: «Ich hatte keinen Moment Zweifel, ob genügend brauchbares Material zusammenkommen würde.»
«Das Kürzen fiel mir schwerer als bei einem Shakespeare, denn ich habe den Jugendlichen etwas versprochen.»
Deborah Neininger, Regisseurin
So hatte sie zum Schluss auch eher das Problem, dass sie sich von Texten oder ganzen Themen trennen musste. «Das fiel mir schwer», sagt Neininger – viel schwerer, als etwa einen Shakespeare zu kürzen, denn da habe sie keine persönliche Verpflichtung – «aber den Jugendlichen habe ich versprochen, ihre Stimme auf die Bühne zu bringen, das nehme ich sehr ernst.»
Zwischen Humor und Schmerz
Streckenweise merkt man das dem Stück ein bisschen an. Etwa, als mehrere Minuten lang zahlreiche Sätze aneinandergereiht werden: «Ich bin glücklich und gestört. Mein einziger Freund ist ein Monster.» Oder: «Ich bin ein Sparschwein, mein Bauch ist voll und richtig viel wert.» Diese poetischen Sätze funktionieren im Einzelnen zwar, bieten insgesamt aber eine so hohe Dichte an Symbolik, dass sich die Wirkung etwas verliert. Doch man verzeiht es der Darbietung allemal.
Insgesamt überzeugt die rhythmische Mischung aus Langsamkeit, Banalität und Action. So, wie auch der Zeitbegriff von Menschen mit psychischen Erkrankungen «rasende Beschleunigungen auslösen kann oder aber quälende Langsamkeit», wie Neininger sagt.
Die Darbietung bewegt sich zwischen Humor und Schmerz, zwischen jugendlicher Fantasie und menschlichen Abgründen. Und so gelingt es, die Lebensrealität der Betroffenen authentisch auf die Bühne zu bringen – ohne sie selbst zu exponieren und zur Schau zu stellen.
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Das Stück entstand im Rahmen des Wildwuchs Festivals, das eigentlich im Zweijahres-Takt stattfindet, nächstes Mal im Juni 2017. Dieses Jahr wird im Zwischenjahr erstmals ein «Wildwuchs Extra» angeboten: Vom 14. bis am 17. September dreht sich alles um das Thema psychische Beeinträchtigung bei Jugendlichen: Am 14. September fand die Premiere des Stücks «Twenty Four» statt.
Am Freitag, 16. September gibt es eine weitere Vorstellung um 20.00 Uhr mit anschliessendem Publikumsgespräch.
Am Samstag 17. September findet dann die dritte und vorerst letzte Vorstellung des Stücks statt, nochmals um die gleiche Zeit, mit Untertitelung für Hörbehinderte. Am Samstag findet zudem um 14.30 eine Denkwerkstatt im Theater Roxy statt, bei der sich Fachpersonen, Betroffene und Interessierte über das Thema austauschen können.