Dagoberts intime Bekenntnisse morgens um halb 4

Nach fünf Jahren als Einsiedler in einer Berghütte stieg Dagobert zu den Menschen hinab und erfüllt seither ihr Leben mit seiner sonderbaren Musik. Für eine Freundin hat er keine Zeit, weil er von der Liebe singen muss. Ein Gespräch mit dem Sonderling über Isolation, Gesellschaft, Comics, Afrika und was uns wirklich beschäftigt.

Perfekt frisiert, auch in aller Herrgottsfrühe: Sänger Dagobert, um halb vier Uhr morgens, in einem Berliner Internetcafé.

Dagobert ist der geheimnisvollste Musiker der Schweiz. Er erfüllt das Leben urbaner Hipster mit Schnulzen im Schlagerstil. Für eine Freundin hat er keine Zeit, weil er von der Liebe singen muss. Eine nächtliche Unterhaltung.

«Ich sehe dich nicht. Du musst die Kamera einschalten.»

«Wie macht man das?»

«Du drückst unten auf den Kno…, genau.»

Er sieht tatsächlich so aus wie in seinen Musikvideos: Gross und schön, ebenmässig, wie die Jünglinge auf den Renaissance-Bildern im Kunstmuseum. Nur dass hinter ihm keine liebliche Landschaft das Bild ziert, sondern eine ungesund gelbe Wand und zwei schwarze Bildschirme, durch billige Holzwände getrennt. Dagobert sitzt in einem Internetcafé an der Schönhauser Allee in Berlin, direkt um die Ecke von seinem Zuhause. Sein Profilbild auf Skype ist quadratfüllend senfgelb, es sieht aus wie die Nahaufnahme einer unebenen Oberfläche. Sand vielleicht, oder solariumgebräunte Haut, in schlechten Lichtverhältnissen. Ich vergesse, ihn danach zu fragen. Vielleicht, weil es halb 4 Uhr morgens ist, wie in Dagoberts bekanntem Lied «Morgens um halb vier»:

Vielleicht aber auch, weil jeder, der Dagobert kennt, weiss: Hier sollte man nicht versuchen, etwas aufzudecken. Der Zauber Dagoberts liegt in seinen Geheimnissen, im Eigentümlichen, im nicht Beantworteten, das bewahrt und alleine gelassen werden sollte, auf dass es seinen entrückten Charme entfalten kann. Wie ein bedrohter Volksstamm im Amazonas, und vielleicht auch ein bisschen wie eine geschützte Werkstatt. Eine schwere Aufgabe, denn Dagobert ist voller abstruser Geschichten.

Der seltsame Werdegang des Dagobert Jäger

In erster Linie sein Werdegang, die «intime Erzählung des Dagobert Jäger», wie es auf seiner Webseite heisst: Der Aargauer «Schnulzensänger aus den Bergen», ursprünglich Lukas Jäger, der nach der Matur erst als «Penner» zwei Jahre lang im Proberaum einer befreundeten Band wohnt, die Musik entdeckt, einen Aargauer Kulturpreis gewinnt, ein halbes Jahr nach Berlin abhaut, die eine Hälfte des Geldes für einen Frack ausgibt, die andere versäuft, dann wieder zurück in die Schweiz kommt, sich fünf Jahre lang in einer Berghütte in Panix, einem Seitental der Surselva, verschanzt, sich praktisch nur von Reis ernährt und schliesslich als Dagobert aus der Asche wieder herabsteigt, um mit einem garantiert schmucken alten Rucksack voller Lieder sein Glück ein zweites Mal in Berlin zu suchen. 

Jetzt ist er also wieder in Berlin, seit drei Jahren bereits, mit einer Musik, auf die niemand gewartet hat:

Schlager-Schnulzen. Wer hört heutzutage noch Schlager? In Berlin? Gesungen von einem hochgewachsenen Schönling in seltsamen Kleidern (die meisten von seiner Schwägerin genäht, «einer sehr lieben Frau», wie Dagobert in der Kurz-Doku auf Youtube über sich meint) und nach hinten gegeltem Haar?

Die Antwort ist: Wir. Denn wenn Dagobert auf der Bühne steht und «Es gibt so viele neue Welten, überall, wo wir nicht sind und überall, wo wir nicht denken / Mein Testament besagt nur eins: Ich will dir alle, alle, alle, alle … alle meine Liebe schenken» singt, mit rührseligen Synthesizer-Klängen unterlegt, wird eben nicht wie erwartet die zynische Augenbraue gehoben. Ganz im Gegenteil: Man ist berührt, und noch berührter, als man merkt, wie berührt man ist, ob dieser irritierend ausserirdischen und doch ganz nahen Musik. Es ist Schlager, das muss man mangels passenderer Kategorien zugeben, aber meilenweit entfernt vom Musikantenstadl-Geplärre. Es ist Dagobert, mit Frack und Haar und dieser sonderbaren Stimme, die rhythmisch stets ein bisschen hinterherhinkt, mit der genau richtigen, wohligen Dosis Provinz. Es entspricht uns in all seinen Gegensätzen, die auch unsere sind: souverän und zerrissen, cool und hilflos. Kästen mit rotem Geranium und taumlige Nächte im Untergrund. 

Das Interview

«Wie geht es dir?», erkundige ich mich verschlafen, denn bei Dagobert gibt es nur Dagobert, weder Nachname noch Vorname, nur Name. Dagobert ist konsequent. In seiner Geschichte, in seinem selbst um diese Uhrzeit makellosen Aussehen, in seiner Musik. Es gehe ihm nicht gut, sagt er und erzählt von einem kürzlich verstorbenen Freund. Das Interview könnten wir aber trotzdem machen, das sei eine gute Ablenkung. Er sieht alleine aus. Im Hintergrund hustet eine Frau, oder es klingt zumindest so. Ich beginne mit der Frage, die alle Dagobert-Fans beschäftigt, die aber auch alles über den Haufen wirft, was ich mir an Geheimnisbewahrung vorgenommen habe. Dagobert ist ein Entertainer und dazu gehört seine Geschichte, ob sie jetzt wahr ist oder nicht, aber ich will, dass er sie mir bestätigt, hier, in der kleinen Blase, die unsere Bildschirme über die knapp 1000 Kilometer spannen.

«Dagobert, ist die Geschichte wahr?»

Welche Geschichte?

Deine Geschichte, die vom Aargauer Sonderling, der fünf Jahre in einer Bündner Hütte hauste und dann herabstieg, um den Menschen seine Musik zu bringen.

Die fünf Jahre Panix? Klar, die stimmt. Dreieinhalb Jahre lang funktionierte das Leben da oben ganz gut. Ich hab Musik gemacht und war glücklich. Irgendwann hab ich aber gemerkt, dass ich mich in eine eigene Welt hineingesteigert hatte und überhaupt nicht mehr fähig war, mit anderen Menschen etwas anzufangen. Gleichzeitig wurde es mir zu einsam. Und ich hatte kein Geld mehr, um mir ein Minimum an Nahrung und Strom zu organisieren. Ich wusste, ich musste etwas ändern, ich wusste nur nicht, wie ich es anstellen sollte. Für mich war es zu hundert Prozent ausgeschlossen, mich zu resozialisieren indem ich studierte oder einen Job annahm. Also flog ich nach Berlin, mit gepumptem Geld. Und da bin ich dann relativ schnell zu einer Wohnung gekommen, in einem Café, wo ich gratis wohnen konnte.

Und so sieht Dagobert tagsüber aus.

Hattest du jemals das Gefühl, was aufzugeben für deine Musik?

Da gab es schon Sachen, die nicht in meinen Plan passten.

Den Plan, für immer Musik zu machen?

Genau. Hier in Berlin hab ich drei verschiedene Beziehungen nicht so recht auf die Reihe gekriegt, weil es halt einfach so ist, dass ich die ganze Zeit Musik machen will und dann nicht ständig abgelenkt sein kann. Dann funktioniere ich jeweils auch nicht mehr so wie ich möchte. 

Gleichzeitig geht es in deinen Liedern aber immer um die Suche nach Liebe.

Gibt es denn sonst noch was, das uns wirklich beschäftigt?

Nicht wirklich.

Deshalb hab ich auch angefangen, mir nicht mehr über andere Sachen den Kopf zu zerbrechen. Das ist nur anstrengend. 

Deine neue Platte heisst «Afrika» – du wolltest mal da hin, hiess es. Was ist aus dem Plan geworden?

Als ich in Panix war, habe ich mir tatsächlich ernsthaft überlegt, nach Afrika zu laufen. Ich habe mich auch entsprechend vorbereitet, habe tagelang nichts oder sehr wenig gegessen, bin jeden Tag weit gelaufen …

… hast du nie innegehalten und gedacht: «Moment mal, was mache ich hier eigentlich?»

Nein, nie, mir war das absolut ernst. Ein Jahr lang habe ich mich vorbereitet. 



Cover von Dagoberts zweiter Platte «Afrika».

Cover von Dagoberts zweiter Platte «Afrika».

Und dann bist du trotzdem wieder nach Berlin.

Ja, weil ich wusste: Wenn du jetzt mit allem komplett aufhörst, dann wirst du vielleicht irgendwann bereuen, dass du es nicht in Berlin versucht hast. Also hab ich es versucht. Und es hat ja auch funktioniert, konzertmässig und veröffentlichungstechnisch. Nur die ersten beiden Alben sind relativ hart gefloppt, die wollte niemand. Jetzt bin ich ziemlich verschuldet, aber ich werde noch einmal versuchen, ein paar Menschen zu einem weiteren Album zu überzeugen. Vielleicht werd ich dann ja endlich berühmt.

Du willst berühmt werden?

Ich habe lange nur für mich Musik gemacht, weil ich gerne Musik mache. Das funktioniert aber auf lange Sicht nicht wirklich. Nur für mich Musik zu machen, das ist dann wieder diese Bergsituation: Einsam, ohne Gegenüber. Und da fand ich, wenn ich schon Musik mache, dann will ich die veröffentlichen, dann will ich, dass sich die verbreitet. Das ist ein anderer Ansatz, es ist auch abenteuerlich, wenn man merkt, man macht Songs und die gehen in die Welt hinaus und dienen allen möglichen Menschen als Unterlage. Und diese Menschen kommen dann an Konzerte und teilen das mit dir. Das finde ich gut und deshalb will ich auch erfolgreich sein, ja. Ich gebe mir jetzt Mühe, mehr als früher, dass meine Musik verständlicher wird. Es geht nicht mehr nur um das, was momentan intuitiv mit mir abgeht oder was ich alles aus mir rauslassen muss, sondern auch ums Kanalisieren, um Kommunikation. 

Wie reagiert das Publikum auf diese Kommunikation?

Die Menschen verstehen oft nicht direkt, was los ist. Sie finden mich komisch, auch wegen der ganzen Geschichten.

Die Geschichten!

Ja, die waren eher hinderlich als förderlich. Aber dann steht man vor meiner Bühne an meinem Konzert und kann sich das reinziehen und dann ist irgendwie klar: Das ist alles echt, die ganzen Gefühle und dieser Typ da auf der Bühne und die Musik dazu – und dann passt es halt. 

Dagobert hält inne und schaut nach rechts über den Bildschirm. Eine tiefe Stimme sagt: «Ich schliesse jetzt, es ist vier Uhr.» Er dreht sich wieder zu mir. «Du kannst mich noch anrufen, wenn du weiterreden willst», meint er und drückt dann seine flache Hand gegen den Bildschirm. «Tschüss.» Kurze Zeit später läuft er die Strasse hinunter und erzählt am Telefon von seinem alten Ich und von seinem verstorbenen Freund und irgendwann legen wir auf und er läuft weiter zu seiner kleinen Wohnung, oder vielleicht auch nicht, aber er hat es zumindest so gesagt und eigentlich ist es ja auch egal: Es gibt so viele neue Welten, überall, wo wir nicht sind und wo wir nicht denken / Mein Testament besagt nur eins: Ich will dir alle, alle, alle alle … alle meine Liebe schenken. 

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Dagobert kommt im Rahmen seiner «Afrika»-Tournee auch nach Basel: Am 17. Oktober, ins Hirscheneck.

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