«Das Basler Publikum ist ein ganz besonderes»

Am Freitag starten die Festtage Alte Musik Basel – ein Festival für alle Sinne, sagt Peter Reidemeister, ehemaliger Leiter der Schola Cantorum Basiliensis und künstlerischer Leiter. Im Interview spricht er über das Espressivo in der Barockmusik, die Sinnlichkeit historischer Rezepte und die Lust, im Alten das Neue zu entdecken.

Peter Reidemeister. (Bild: Dirk Wetzel/livingpool-photography.com)

Ein Festival für alle Sinne: Peter Reidemeister, ehemaliger Leiter der Schola Cantorum Basiliensis und künstlerischer Leiter der Festtage Alte Musik Basel, über das Espressivo in der Barockmusik, die Sinnlichkeit historischer Rezepte und die Lust, im Alten das Neue zu entdecken.

Herr Reidemeister, Sie sind Künstlerischer Leiter der Festtage Alte Musik Basel. Welche Musik wird in den kommenden neun Tagen zu hören sein?

Ganz wunderbare Musik aus der Zeit des Übergangs von der Renaissance zum Barock um 1600 – einem der folgenreichsten Stilwandel der Musikgeschichte.

Sie haben bereits 2011 in Ihrer ersten Festivalausgabe eine Umbruchszeit zum Thema gewählt, vom Mittelalter zur Renaissance. Weshalb?

Weil gerade die Musik aus Übergangszeiten zwischen zwei Stilen äusserst spannend ist. Das alte erscheint abgenutzt, die Komponisten suchen mit aller Phantasie nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Um 1600 resultiert daraus ein schier unerschöpflicher Reichtum an Musik.

Basel gilt gemeinhin als Alte-Musik-Stadt. Wieso gibt es hier erst seit 2011 ein Alte-Musik-Festival?

Man kann so etwas ja nicht allein machen. Man braucht nicht nur Geld, sondern auch Rückendeckung von politischer Seite. Das fügte sich eben erst im Vorfeld der ersten Festival-Ausgabe 2011 glücklich zusammen.

Zur Person:
Peter Reidemeister stammt aus Berlin und ist seit 40 Jahren Wahl-Basler. Er studierte Flöte und Musikwissenschaft, war Mitglied der Berliner Philharmoniker und leitete von 1978 bis 2005 die Schola Cantorum Basiliensis. Er engagiert sich ehrenamtlich für die Förderung von Basler Absolventen auf dem Gebiet der Alten Musik und veranstaltet nun zum zweiten Mal die Festtage Alte Musik Basel.

Einmal ganz grundsätzlich gefragt: Was meint der Begriff Alte Musik?

Leider meint dieser Begriff meist nur die Musik des Barocks. Schauen Sie sich die Musikhochschulen an: Fast überall gibt es eine Abteilung für Alte Musik, doch in den meisten Fällen wird nur Barockmusik unterrichtet. Weil man damit heute noch am ehesten Geld verdienen kann.

Weshalb?

Vermutlich liegt es daran, dass die Barockmusik eine Affektmusik ist, bei der der Ausdruck, das Espressivo, der sprachliche Gestus ganz stark in der Musik angelegt ist. Die Musik des Mittelalters, die sich ja hauptsächlich an den lieben Gott wendet, können die Leute scheinbar weniger gut nachvollziehen. Ich bedaure das sehr, denn in der Mittelalter- und Renaissancemusik gibt es noch so viel Neues zu entdecken.

Hat also Alte Musik immer auch mit der Lust auf Neues zu tun?

Ja, unbedingt. Das Neue, das Entdecken von etwas, das jahrhundertelang nicht aufgeführt wurde, war bei der Entwicklung der Alte-Musik-Bewegung schon immer wichtiger als das Historische, das In-der-Geschichte-Wühlen.

Stimmt es, dass die Alte-Musik-Bewegung anfänglich von Hobbymusikern ausging?

Im Grunde ja. Die Geschichte der Alte-Musik-Bewegung begann Anfang des 20. Jahrhunderts und war eng mit der Jugendbewegung verknüpft. Man wollte revoltieren gegen die spätromantische Gigantomanie der Orchesterbesetzungen – denken Sie nur an Gustav Mahler. Nach dem ersten Weltkrieg war die gesellschaftliche Erschütterung so stark, dass man nach einer Alternative zu den bisherigen Standards suchte.

Und das war dann die Alte Musik?

Man suchte die Natur, die Abgeschiedenheit, und das musikalische Äquivalent waren die alten Instrumente: Blockflöte, Gitarre, Laute, später auch Gambe und Cembalo. Sie waren nicht laut, man spielte sie in kleinen Zirkeln, in kleinen Besetzungen. Und man suchte das Einfache auch in der Spielweise, man wandte sich dezidiert gegen das hochgezüchtete Virtuosentum. Das hat natürlich in der Art, wie man alte Musik spielt, lange nachgewirkt: welche Tempi man wählte, welche Ansprüche man an die Qualität des Instrumentenbaus setzte, welche Kompetenzen man von Musikern erwartete.

Das merkt man der Szene heute gar nicht mehr an.

Indirekt schon noch – indem man sich heute gerade davon wieder absetzen will: mit rassigen Tempi, virtuosem Spektakel, nur um bloss nicht den Eindruck zu erwecken, dass man etwas spielt, das schon dagewesen ist. Manche haben eine enorme Angst, dass es «langweilig» werden könnte.

Gibt es deshalb in Ihrem Festival das Festessen nach historischen Rezepten mit der passenden Musik – ein historisch informiertes Menü sozusagen?

(lacht) Nunja, das haben wir schon vor zwei Jahren bei unserer ersten Festivalausgabe gemacht – es ist einfach hochinteressant, auch diesen Teil der Geschichte kennenzulernen, zu spüren, zu schmecken. Musik und Bankett ist ja ein ebenso wichtiges Thema wie Musik und Tanz oder Musik und Gottesdienst.

Was kommt da im Basler Schützenhaus auf den Teller?

Der Historiker Andreas Morel hat alte Rezeptbücher gewälzt und auch Berichte darüber gelesen, wie solche Festessen damals abliefen. So wird das Publikum an einer grossen Tafel in Form eines Hufeisens sitzen, die Kellner bringen die Speisen in grossen Schalen hinein, und man dient sich selbst gegenseitig zu. Es gibt «Galrey»: Aspic vom Huhn und Schwein mit gesäuerten Rosinen, Mandeln und Ingwer. Oder «Veau Saumoné»: eingelegtes Kalbfleisch, in Fischform drapiert, mit Sauce überzogen und mit Kapern garniert. Später Honigleckerli, mit Marzipan gefüllte Datteln, und und und. Und zwischen den Gängen gibt es reichlich Musik mit dem Rolf Lislevand Ensemble.

Die Eintrittskarte zu diesem musikalischen Festessen hat mit 300 Franken einen stolzen Preis.

Das ist in unserem Programm die absolute Ausnahme, es ist ein Benefiz-Anlass für unseren Verein. Wir wollen sonst ganz bewusst kein glamouröses Festival mit gesellschaftlichem Tamtam und abgehobenen Preisen sein. Jeder, der sich interessiert, soll kommen können. Deshalb haben wir viele Konzerte am Mittag und am frühen Abend, bei denen der Eintritt gratis ist, wo wir nur eine Kollekte sammeln.

Was wird da gespielt?

Hier stellen wir erstklassige, vornehmlich junge Ensembles vor: Etwa das Ensemble Il Zabaione Musicale mit italienischen Madrigalen, oder das Ensemble Thélème mit französischen Chansons.

Zum Festival:
Festtage Alte Musik Basel, vom 23. bis 31. August 2013: Wege zum Barock – Tradition und Avantgarde um 1600. Zahlreiche Konzerte mit freiem Eintritt, wissenschaftliche Vorträge und Stadtführungen durch Basel zur  Zeit um 1600.

Veranstalter des Festivals ist der «Verein zur Förderung von Basler Absolventen auf dem Gebiet der Alten Musik», den Sie gemeinsam mit Renato Pessi gegründet haben. Weshalb braucht es diese Unterstützung?

Für die jungen Leute ist es schwieriger geworden, im Musikleben anzukommen. Für die Alte Musik gibt es keine festen Orchesterstellen und nur wenige Möglichkeiten, an Musikschulen zu unterrichten. Deshalb unterstützt unser Verein die besonders Begabten, indem wir ihnen Auftrittsmöglichkeiten schaffen: beim Festival und bei unseren Konzertreihen in Basel, Berlin, Prag und anderen Städten.

Das Festival-Programm listet neben wissenschaftlichen Vorträgen und Stadtführungen zwölf Gratis-Konzerte und nur sieben Bezahlkonzerte auf. Funktioniert diese Aufteilung im Budget?

Die Gratis-Konzerte wurden bei der letzten Festivalausgabe sehr gut aufgenommen, die Räume waren oft bis zum Bersten gefüllt. Bei den Bezahlkonzerten am Abend hatten wir dann leider etwas weniger Publikum als budgetiert. Ich bin gespannt, wie es diesmal wird. Unsere Abendkonzerte sind sehr vielfältig: Etwa italienische Tanzmusik aus Italien und Frankreich mit historischen Choreographien mit ll Ballarino und dem Ensemble Musica Fiorita. Oder Psalmvertonungen mit dem Huelgas Ensemble

…Festival-erprobte Ensembles also…

…ja. Doch andere Alte-Musik-Festivals, etwa jene in Utrecht oder Regensburg, haben uns gesagt, dass es vier Jahre braucht, bis sich ein Festival wirklich etabliert. In dieser Liga wollen wir schon gerne mitspielen.

Das Publikum für ein solches Event müsste hier doch vorhanden sein?

Das ist es auch. Gerade das Basler Publikum ist ein ganz besonderes. Seit 1933 die Schola Cantorum durch Paul Sacher und August Wenzinger gegründet wurde – also seit 80 Jahren – gibt es in Basel Konzerte mit Alter Musik. Das bildet natürlich ein Publikum heran, das ein ganz besonderes Qualitätsbewusstsein hat, das schnell merkt, wenn etwas wirklich gut ist, oder wenn etwas lediglich eine Modeerscheinung ist. Der berühmte Cembalist Gustav Leonhardt, der ja auf der ganzen Welt Konzerte gab, sagte mir einmal: «Solch ein Publikum wie in Basel gibt es sonst nicht. Wenn man hier die Bühne betritt, weht einem schon das Kennertum und die gespannte Neugierde entgegen. In anderen Städten muss man diese Atmosphäre immer erst schaffen.»

 

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