Das Wetter stimmte, das Dargebotene zu weiten Teilen ebenfalls: Mit einem kraftvollen und zugleich irritierenden Musiktheaterabend von Heiner Goebbels startete das Theaterfestival Basel in der Reithalle der Kaserne Basel in seine zweite Auflage unter der künstlerischen Leitung von Carena Schlewitt.
«Wovon träumen junge Mädchen? – Vom Messer und vom Blut!» Das Zitat von Alain Robbe-Grillet ist nicht die einzige Textpassage an diesem Abend, die für Verwunderung sorgt. Die Attribute «merkwürdig» und «irritierend» waren, nach der Eröffnungsproduktion des Theaterfestivals Basel in der Reithalle der Kaserne Basel oft zu vernehmen. Ebenso die Bezeichnungen «faszinierend» und «umwerfend». All dies zusammen beschreibt eigentlich ganz treffend, was dieses mit viel Prominenz aus der lokalen und nationalen Kultur- und Politszene bestückte Publikum zuvor erlebt hatte.
Auf dem Programm stand (und steht Donnerstagabend, 28. August, noch einmal) «When the mountain changed its clothing», ein Musiktheaterabend von Heiner Goebbels mit dem Vocal Theatre Carmina Slovenica. Einem Chor, der aus rund drei Dutzend Mädchen im Alter zwischen 10 und 20 Jahren besteht. Goebbels, einer der grossen Namen des innovativen Musiktheaters und Intendant des renommierten Festivals Ruhrtriennale, hatte nicht zu viel versprochen, als er in seiner kurzen Eröffnungsansprache seinen Glauben an die Singularität von starken Erfahrungen hervorhob.
Ein fulminanter Auftritt
Zu sehen und zu hören bekam man erstens einen ausgesprochen fulminanten Auftritt. Das spielerische und sängerische Können der knapp 40 Mädchen aus Maribor in Slowenien ist umwerfend. Die Präzision, mit der sich die wunderbar singende, sprechende, schreiende und rhythmisch klatschende Schar vom chaotischen Durcheinanderrennen unvermittelt zu haarfein ausgerichteten Formationen zusammenfindet, ist absolut beeindruckend.
Ebenso beeindruckend ist, wie die Mädchen und jungen Frauen mühelos von den disharmonischen Klängen eines Arnold Schönberg zur einlullenden Harmonie mittelalterlicher Gesängen wechseln, vom Pathos der Hochromantik eines Johannes Brahms‘ zum ekstatischen Stakkato von indischen Sprechgesängen und von elektronisch untermalten Eigenkompositionen des Regisseurs zu slowenischen Volksliedern sowie Popsongs. Das alles geht, begleitet überdies von zahlreichen Kostümwechseln, absolut leichtfüssig und unverkrampft über die Bühne.
Von der Kindlichkeit zum Erwachsenendasein
Nun ist «When the mountain changed its clothing» natürlich mehr als ein Jugendchor-Liederabend, wie auch das berühmte Vocal Theatre Carmina Slovenica unter der Leitung von Karmina Šilec, wie bereits der Name sagt, mehr ist als ein Ansammlung wunderbar singender Mädchen. Heiner Goebbels schickt die Mädchenschar auf die zuweilen beschwerliche Reise von der Kindheit in die Erwachsenenwelt, die von gesellschaftlichen Konventionen geprägt ist und in der die grossen Themen Liebe, Geld, Krieg und Tod anklingen.
Das Ganze beginnt damit, dass die Mädchen eng zusammengeschart und mit geschlossenen Augen langsam auf die Bühne schleichen, als ob sie aus der unbeschwerten Kindheit heraus in eine neue unbekannte Welt schreiten. Von dumpfen elektronischen Klängen untermalt wiederholen einzelne Mädchen aus der Gruppe abwechselnd den beschwörenden Satz «Everything’s going to be alright». Sie murmeln diesen Satz, dehnen ihn aus, bis sie mit einem durchdringenden Schrei in der neuen Welt ankommen.
Geheimnisvolle Zwischenwelt
In einer anderen Szene sind zwei Mädchen im Bühnenvordergrund zu beobachten, wie sie Plüschtiere ausweiden und aus dem Stopfmaterial flauschige Wölckchen formen. Kurz zuvor hatten sich die Mädchen zum gemeinsamen lauten Ansingen gegen die Aussenwelt zusammengruppiert. Es sind dies trefflich komponierte Momentaufnahmen der pubertären Zwischenwelt, die von den Polen Aufbegehren und Disziplinierung geprägt ist.
Nicht immer macht es Goebbels dem Publikum leicht, aus dem ruhelosen Bühnengeschehen Momente klarer Erkenntnisse herauszugreifen. Das liegt auch an der Auswahl der Texte, die mal von einzelnen Mädchen, dann aber wieder vom gesamten Chor vorgetragen werden. Es sind zum Teil wahrhaft düstere Worte, wie etwa diejenigen aus einem Gedicht von Josef von Eichendorff: «Ich grabe fort und singe, und grab mir bald mein Grab.» Oder der Ausschnitt aus einem Text von Alain Robbe-Grillet: «Wovon träumen junge Mädchen? – Vom Messer und vom Blut!»
Audiovisuelles Dauerstakkato
Es sind viele Textbausteine, die untereinander keinen stringenten Zusammenhang haben: Zu den erwähnten Passagen gesellen sich Gedankenstränge von Getrude Stein, Adalbert Stifter, Jean-Jacques Rousseau und weiteren mehr. Untermalt wird das Ganze von einem rauschhaften Panoptikum an symbolgeladenen Bildern. Das Dauerstakkato an Texten, Musikpassagen und Bildern bietet kaum Raum oder Zeit, wirklich und vertieft in das Geschehen einzutauchen.
So ist letztlich einer der eingängigsten Momente an diesem Musiktheaterabend einer, der ohne Musik und ohne Text auskommt. Einmal setzen sich alle Mädchen und jungen Frauen in einer langen Reihe an die Bühnenrampe und schauen mit einem reizenden Lächeln ins Publikum. Minutenlang verharren sie schweigend und bewegungslos an Ort und Stelle. Ganz langsam erlischt das Lächeln auf den Gesichtern, und es baut sich eine Spannung bis fast zur Schmerzgrenze auf. Ein eindrückliches Erlebnis.
Festivalauftakt bei schönem Wetter
Dieses Jahr stimmte sogar das Wetter: Eröffnungsansprache von Festivalleiterin Carena Schlewitt (Bild: Dominique Spirgi)
«In diesem Jahr haben wir sogar eine Überdachung», sagte Carena Schlewitt bei ihrer Eröffnungsansprache im Festivalzentrum auf dem Kasernenplatz. Die Worte waren geprägt von der Erinnerung, als sie vor zwei Jahren die erste Festivalausgabe unter ihrer Leitung eröffnet hatte. Weil damals pünktlich zum Festivalbeginn ein wolkenbruchartiger Regen eingesetzt hatte, musste die Eröffnungszeremonie spontan in den Rossstall verlegt werden.
Das war dieses Jahr nicht nötig. Schlewitt und mit ihr die beiden Regierungsvertreter Guy Morin aus Basel-Stadt und Urs Wüthrich aus Baselland konnten die Gäste unter freiem Himmel begrüssen. Auf dem Kasernenhof, auf dem neben dem von Szenografie-Studentinnen der Hochschule für Gestaltung und Kunst eingerichteten Festivalzentrum etliche Wohn- und Schlafinseln der Stadtraumintervention «ReiseBüro» des französischen Künstler- und Architektentrios boijeot.renauld.turon! installiert sind.
Neue Perspektiven
Schlewitt kündigte an, dass das Theaterfestival die Möglichkeit biete, die Welt aus verschiedenen kulturellen Perspektiven neu wahrzunehmen. Guy Morin knüpfte daran an, indem er darauf hinwies, dass es nach wie vor sehr wichtig sei, dass uns Künstlerinnen und Künstler einen Spiegel vorhalten. Und Wüthrich gab der Erwartung Ausdruck, dass das Theaterfestival einen seismographischen Ausblick in die Zukunft eröffnen werde.
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Das Theaterfestival Basel dauert noch bis 7. September. An verschiedenen Spielorten werden 17 Produktionen aus beinahe ebenso vielen Ländern gezeigt. Donnerstagabend findet unter anderem in der Reithalle der Kaserne Basel die zweite Vorstellung des Musiktheaters «When the mountain changed its clothing» statt.