Das Casting, das Ausnahmepianisten träumen lässt

Es ist einer der schwierigsten Klavierwettbewerbe der Welt, er findet nur alle drei Jahre statt und die Teilnehmer träumen von der ganz grossen Solistenkarriere. Gerade fand der Concours Géza Anda in Zürich statt. Eine Reportage.

(Bild: Priska Ketterer)

Concours Géza Anda heisst einer der schwierigsten Klavierwettbewerbe der Welt. Er findet nur alle drei Jahre statt. Talentscouts hoffen, einen Weltstar zu entdecken. Und die Teilnehmer träumen von der ganz grossen Solistenkarriere. Eine Reportage.

Zürich, im Juni 2015. Die Sonne lacht, kleine Wölkchen bemustern den Postkarten-blauen Himmel. Doch im Konservatorium in der Florhofgasse ist das Sommerwetter völlig irrelevant. Hier herrscht gespannte Konzentration. Eine zarte Note Angstschweiss liegt in der Luft. Auf den grell beleuchteten Gängen laufen junge Musiker auf und ab; manche wie Zirkus-Tiger in ihren Käfigen, andere betont lässig. Dazwischen Angehörige, die Mut machen, verspannte Muskeln massieren, beruhigen.

Zum 13. Mal wird der Concours Géza Anda in Zürich ausgetragen. Es gibt etliche Klavierwettbewerbe auf der Welt, doch dieser hier zählt sich zu den wichtigsten und grössten. Man suche keine Klaviermaschine, keinen Tasten-Akrobaten, sagt Jury-Mitglied Filippo Gamba. Man suche eine Persönlichkeit, wie dies der namenstiftende, legendäre Wahl-Zürcher Géza Anda (1921–1976) einst war.

Nun sind Persönlichkeiten rar gesät wie eh und je. Das breite technische Niveau der jungen Musiker aber steigt unaufhörlich.

99 Pianisten haben sich für den Concours Géza Anda beworben, 45 wurden per Video ausgewählt. Angetreten sind letztlich 17 Pianisten und zehn Pianistinnen. Eine solch hohe Zahl an Abmeldungen ist aufgrund der Wettbewerbsdichte normal: Bei über 300 Wettbewerben jährlich gibt es zwangsläufig Terminüberschneidungen; wer dann eine Zusage bei einem parallel stattfindenden Wettbewerb erhält, muss sich entscheiden.

Blattspielen: ein Muss 

Manch einer der Absagenden hat vielleicht einen leichteren Wettbewerb gewählt, denn der Concours Géza Anda fordert eine besonders breite Repertoiresicherheit. In der ersten Runde können die Teilnehmer gerade einmal das erste Stück frei wählen. Das zweite erfahren sie fünf Minuten vor ihrem Auftritt – es ist eines der Werke aus dem umfangreichen Repertoire Géza Andas.

An jenem schönen Sommertag findet in Zürich gerade die 2. Runde statt: die Rezitale. Jeder Kandidat hat eine Stunde Zeit, um drei Werke aus drei Epochen zu spielen. Die Vorspiele sind öffentlich; der grosse Saal des Zürcher Konservatoriums zur Hälfte besetzt – jene Hälfte, die einen Blick auf die alles entscheidenden Hände der Pianisten erlaubt. Einige ältere Damen sind aus purer Lust an der Musik dabei, fachsimpeln über die jungen Talente, ihre Biografien und Lebensstationen.

Wie im Fussball: Talent-Scouts sitzen im Publikum

Aber auch Talent-Scouts, Lehrer, Betreuer, Angehörige mit Notizzettel und ausgeklügeltem Tabellensystem befinden sich im Publikum. Die Jury thront in der Mitte des Saales hinter einer langen, weissen Tisch-Reihe.

Jeder Kandidat wird mit freundlichem Applaus begrüsst. Wie Kim Yoonji. Schnellen Schrittes geht die Koreanerin auf die Bühne im Grossen Saal des Konservatoriums Zürich. Die 26-Jährige trägt ein schwarzes Abendkleid; ihre Hände umklammern ein weisses Taschentuch. Sie verbeugt sich rasch, nimmt Platz, knetet das Taschentuch – ein Utensil, das fast alle dabeihaben.

Manch einer wischt damit nach jedem Stück Hände, Stirn und Klaviertasten trocken. Andere haben es wie ein Maskottchen bei sich, ohne es zu benutzen. So wie Kim. Sie legt es neben sich auf den Klavierstuhl und legt los: Beethovens berühmte Sonate op. 101 steht auf ihrem selbst gewählten Programm, ein gewichtiges Werk. Sie spielt alles richtig, macht schöne Bögen, gestaltet abwechslungsreich – aber der Funke will nicht so recht überspringen.

Jeder ist mit sich allein

Nach ihrem Auftritt nimmt Kim viele Gratulationen entgegen. Sie sagt, sie sei unheimlich nervös gewesen. Den Wettbewerb selbst findet sie dennoch gut: «Sie stellen uns einen sehr guten Flügel zur Verfügung – das ist nicht selbstverständlich», sagt sie. Auch die Betreuung sei sehr angenehm. Sie mache diesen Wettbewerb ganz klar für ihre Karriere, das sei wichtig, sagt sie. Wie viel Chancen sie sich ausrechnet, will sie nicht beantworten, das sei völlig offen. Das Ergebnis erfährt sie letztlich im Internet: Es gibt keine öffentliche Bekanntgabe der Ergebnisse mehr, kein Mitfreuen und Mittrauern – jeder ist mit sich allein, wenn über den Lohn der Mühen entschieden wird. Für Kim heisst es ein paar Tage später: Koffer packen, weiterfahren, zum nächsten Wettbewerb. Weiter üben, weiter Nerven trainieren, weiter hoffen, es für einmal bis ganz nach oben zu schaffen und als neuer Star entdeckt zu werden.

Immer wieder wird über Sinn und Unsinn solcher Wettbewerbe diskutiert. Manche sagen, dass letztlich meist der kleinste gemeinsame Nenner gewinne, auf den sich die Jury eben einigen könne. Schräge Vögel und starke Charakterköpfe finde man selten in Wettbewerbs-Finalen. Zudem gibt es immer wieder Wettbewerbs-Finalisten, deren (einstige) Lehrer in der Jury sitzen.

Das Verhältnis der Jury zu den Talenten

Der Pianist Oliver Schnyder, der als Experte die Radio-Übertragung des Finales begleitet, bestätigt: «Wer als Pianist gerne bei solchen Wettbewerben erfolgreich sein will, der kann sich natürlich gezielt einen Lehrer suchen, der oft in solchen Jurys sitzt. Das sind dann meist sehr angesehene Lehrer, deren Schützlinge bei den Wettbewerben oft vorne mit dabei sind.» Rechtlich sei es zwar klar: Lehrer dürfen nicht für ihre eigenen Schüler stimmen – auch nicht für ehemalige. «Aber man kann nicht nicht kommunizieren», sagt Schnyder. «Die Kollegen wissen über Lehrer-Schüler-Verhältnisse Bescheid, und man will es sich ja nicht mit den Kollegen verscherzen». Das gehöre zu Wettbewerben einfach dazu.

Auch beim diesjährigen Concours Géza Anda schafft es ein Pianist bis ins Finale, dessen ehemalige Lehrerin in der Jury sitzt. Doch die Qualität der Darbietungen beim Finale sind letztlich so klar, dass diese Verbindung hier irrelevant wird – es gewinnt ein anderer.

Das Finale findet nach zehn intensiven Wettbewerbstagen in der Tonhalle Zürich statt. Ein grosses, romantisches Klavierkonzert muss es sein, das die drei Finalteilnehmer in Begleitung des Tonhalle-Orchesters zum Besten geben. Weisse Taschentücher kommen hier nicht mehr mit auf die Bühne, dafür wirkt der mit herausgeputztem Publikum und zahlreichen Amtsträgern der Klassik-Welt voll besetzte Grosse Saal der Tonhalle viel zu ehrwürdig.

Eigentlich haben die drei Solisten schon viel gewonnen: Sie machen die Preisgelder von zehn-, zwanzig- und dreissigtausend Franken unter sich aus. Und alle drei kommen in den Genuss von zahlreichen Konzertengagements. So fördert die Stiftung ihre Schützlinge während drei Jahren, und allein diese Möglichkeit, Konzerterfahrung zu sammeln – und als hauptberuflicher Konzertpianist Geld zu verdienen –, ist für die jungen Pianisten Gold wert.

Und schliesslich können die drei Finalisten nach der 3. Runde, in der ein Mozart-Konzert mit dem Tonhalle-Orchester gespielt wurde, nun ein zweites Mal mit grossem Orchester auftreten. All das wird in Ton und Bild aufgezeichnet; und die Géza-Anda-Stiftung stellt dieses so wichtige und teure Werbematerial allen Interpreten zur Verfügung.

Siegen muss dabei nicht alles sein. In der Vergangenheit machten oft zweite Preisträger Karriere: Nikolai Tokarev etwa (2006), Henri Sigfridsson (2000) oder Konstantin Scherbakov (1991).

Ein Solist mit Orchester

Doch all das spielt an diesem Finalabend keine Rolle. Jeder der drei ist nervös, für jeden steht viel auf dem Spiel. Aleksandr Shaikin muss als Erster ran. Der Russe betritt betont langsam das Podium, er strahlt, sitzt danach locker-professionell am Flügel, während das Orchester die Einleitung von Johannes Brahms erstem Klavierkonzert interpretiert. Der 27-Jährige hat ein ungewöhnliches Wettbewerbsstück gewählt: Brahms schrieb mit diesem Konzert quasi seine erste Sinfonie; Solopart und Orchester sind aufs engste miteinander verwoben – keine einfache Aufgabe für einen Neuling mit der wenigen Probezeit, die hier zur Verfügung steht. «Ich habe nur selten Pianisten mit diesem Stück bei Wettbewerben brillieren sehen», kommentiert Pianist Oliver Schnyder.

Doch Shaikin spielt routiniert, die Läufe perlen, die Agogik ist schön gestaltet. Dynamisch geht er wenig aus sich heraus – ist es die Nervosität, die ihn hemmt? Oder der Respekt vor der Kulisse?

Es wird ein ordentlicher, beklatschter Vortrag. Aber als eine Persönlichkeit, die der Wettbewerb hier suchen will, hat er sich nicht ins Gedächtnis eingebrannt.

Ganz anders der zweite Kandidat, Andrew Tyson. Einige lang werdende Minuten lässt der 28-Jährige Publikum und Orchester warten, bis er endlich wie ein schüchterner, zu gross geratener schlaksiger Schuljunge auf die Bühne huscht. Doch sobald der Amerikaner spielt, öffnet sich eine andere Welt. Auf einmal beginnt dieser Flügel zu singen, zu klingen, zu schweben. Tyson interpretiert Chopins erstes Klavierkonzert, hochvirtuos, mit einer Leichtigkeit, die auch andere schon gezeigt haben – doch er schafft es dabei, das Stück ungemein poetisch zu gestalten, die komplexe Architektur dieser so leicht wirkenden Musik aufzuzeigen – und immer wieder erlaubt er sich überraschende Ausbrüche. Hier sitzt einer, der etwas zu sagen hat. Das tut er manchmal jugendlich-unbeholfen impulsiv, sehr oft aber mit ausgesuchter Schönheit und grosser Eigenwilligkeit.

Ein Tastenlöwe verliert den Rhythmus

Diese verzaubernde Leichtigkeit ist eigentlich nur noch mit emotionaler Tiefe und Draufgängertum zu kontern. Ein Tastenlöwe müsste jetzt antreten, und der dritte Kandidat, der Brasilianer Ronaldo Rolim (29) hat sich in den vorangehenden Runden als genau solch einer präsentiert. Er sehe sich eigentlich schon als Sieger, sagte er gar den Radioreportern von SRF2 Kultur ins Mikrofon. Vielleicht braucht es solche Siegesgewissheit, um dem Druck standzuhalten.

Doch nach den acht kräftigen, gerade heraus gespielten Akkorden von Rachmaninovs zweitem Klavierkonzert geschieht das Unfassbare: Orchester und Solist geraten völlig auseinander. Einzelne Instrumentengruppen setzen teilweise ganz aus, bis wieder ein gemeinsamer Rhythmus gefunden ist. Doch die Chemie stimmt nicht: Immer wieder wechselt Rolim in seinem impulsiven Spiel überraschend die Tempi, immer weniger gelingt es Dirigent Karl-Heinz Steffens, zwischen Orchester und Pianisten zu vermitteln. All seine Kraft geht in diesem Koordinationskampf verloren, sein warmer Anschlag, der in der Rezital-Runde noch dunkel glänzte, wird immer flacher, seine musikalischen Ideen verlieren ihren Bezugspunkt.

Tränen und Szenen der Erleichterung 

Das Publikum jubelt dennoch. Manche wohl auch, um ihren Favorit aufzumuntern. Rolim hat einen ganz schlechten Tag erwischt, ist aber bei der Preisvergabe ganz cool, ganz Profi – auch wenn es «nur» für den dritten Platz reicht. Und, das obwohl – wie die Jury nochmals betont hat – die Leistung aus allen Runden berücksichtigt worden ist.

Im Moment der Bekanntgabe, dass Aleksandr Shaikin den zweiten Preis erhält, verschlägt es Andrew Tyson die Sprache. Fassungslos bedeckt er seinen Mund, verdrückt ein paar Tränen – hier lässt sich erahnen, wie viel Druck auf den Schultern dieser jungen Musiker lastete – und in einem solchen Moment abfallen kann.

Auch den Publikumspreis sowie den Preis für die beste Mozart-Interpretation erhält der überragende Tyson. Ob er auf den Konzertpodien der Welt Karriere machen wird, das entscheiden viele Faktoren. Phantasiereichtum und starke Nerven hat er mit dem Wettbewerbssieg schon mal bewiesen. Ein wichtiger Schritt auf einem lebenslangen Weg.
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Mehr zu Geza Anda gibt es hier.
Videobonus: Eine Kinderfrage an den diesjährigen Gewinner Andrew Tyson – warum er Chopin mag.


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