Das Kopftuch für den Mann

Ein französisches Youtube-Video legt zur Zeit täglich eine Million Views zu. Was ist passiert? Die Fiktion einer Welt, in der Frauen oben ohne joggen und Männer ein Kopftuch tragen, mobilisiert die Massen.

Ein französisches Youtube-Video legt zur Zeit täglich eine Million Views zu. Was ist passiert? Die Fiktion einer Welt, in der Frauen oben ohne joggen und Männer ein Kopftuch tragen, mobilisiert die Massen.

Vor einer Woche ging ein elfminütiger Kurzfilm mit dem Titel «Majorité Opprimée» auf Youtube online, der heute die Fünf-Millionen-View-Marke geknackt hat. Gestern waren es noch vier. Was ist da wieder passiert? Welcher Nerv wurde getroffen?

Ein völlig normaler Typ, Vater eines kleinen Kindes, ist mit seinem Kinderwagen unterwegs durch die Stadt. Alles normal, aber pikante Details sind anders in dieser Welt: Vorbeijoggende Frauen sind oben ohne unterwegs, der Kindergärtner trägt eine Art Kopftuch (weil Gott es so will, wie er findet), kurz darauf wird Pierre in einer Seitengasse vergewaltigt (per Biss in sein Geschlecht). Am besten schaut man sich den Film rasch an, der Sog ist aus offensichtlichen Gründen enorm.

Später Hype

Erstaunlich an dem plötzlichen Hype ist, dass der Film fünf Jahre alt ist. An einem Festival in Kiew wurde er bereits ausgezeichnet. Warum kommt der Buzz erst jetzt? Den Grund dafür sieht die französische Regisseurin Eléonore Pourriat gegenüber dem Guardian darin, dass man sich damals für Feminismus rechtfertigen musste, während heute die Gefährdung der Frauenrechte in aller Bewusstsein sei.

Die pragmatische Variante könnte lauten: Als der französischprachige Film vor einer Woche auf Youtube ging, hatte er erstmals englische Untertitel. Wie auch immer. Pourriats damaliger Antrieb, den Film zu drehen, spricht für sich: Bei ihrem Mann habe sie erlebt, dass er keine Vorstellung davon hat, was es heisst, eine Frau zu sein und – wenn auch nur unauffällig – jeden Tag angemacht zu werden.

Das Delikate des Themas zeigt sich nun in zahllosen Internetkommentaren. Während viele Kommentatoren (beider Geschlecht) die Versuchsaufstellung begeistert aufnehmen, werden vor allem die folgenden Punkte pathetisch, genervt, frivol, auf jeden Fall aber leidenschaftlich diskutiert:

Der arme Held Pierre, dem an jeder Ecke nachgepfiffen wird, ist alles andere als attraktiv. Sehr wohl aber die Frauen, die ihm nachschauen und ihn schliesslich vergewaltigen. (Was noch aussteht, wäre also der umgekehrte Hugh-Heffner-Effekt: eine 80-jährige Matrone, die sich mindestens einen Adonis hält. Viagra bräuchte sie nicht mal).

Youtube beschränkt den Zugriff

An Männern, die auf die Joggerin mit den tollen Brüsten abfahren, die bei 1 Minute 30 oben ohne am kinderwagenschiebenden Helden vorbeiläuft, fehlt es natürlich nicht (der sicherste Weg, sich wütende Reaktionen einzuhandeln).

Fragen wirft auch die Tatsache auf, dass Youtube den Clip «möglicherweise für einige Nutzer unangemessen» findet – man muss sich bei seinem Googlekonto anmelden, um ihn schauen zu können. Nicht nur, dass sich die Fiktion des Matriarchats so schnell nicht durchsetzen wird, sie ist in den Augen der Youtube-Google-Macht noch nicht mal jugendfrei. Ein weiter Weg also noch bis zur Joggingfreiheit für Frauen.

Viele männliche Kommentatoren sind gelangweilt von dem Film – wieder eine feministische Attacke. Die Argumente dazu: Der Film sei verallgememeinernd und Frauen würden nicht oder nur sehr selten so diskriminiert wie die Männer in dem Film. Und schliesslich: der umgekehrte Fall wäre auch nicht wünschenswert.

Wenigstens der letzte Punkt ist unbezweifelbar. Doch nichts dürfte Pourriat ferner liegen, als die Umkehrung der Diskriminierung zu predigen. Die Zeit schreibt treffend: «Sexismus ist ein Produkt von Macht – egal, wer sie innehat.»

Nächster Artikel