Das Meer in unserer Mitte

Christoph Keller behandelt in seinem Roman die grossen Themen des 21. Jahrhunderts in vier Lebensgeschichten. «Übers Meer» ist nicht ohne Pathos und dennoch toll geschrieben. Am 18. April liest der Autor im Literaturhaus Basel.

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Christoph Keller behandelt in seinem Roman die grossen Themen des 21. Jahrhunderts in vier Lebensgeschichten. «Übers Meer» ist nicht ohne Pathos und dennoch toll geschrieben. Am 18. April liest der Autor im Literaturhaus Basel.

Vier Menschen sind in Not. Ein Djerbaner ist auf der Flucht, weil er sich von ehemaligen Freunden distanziert hat, die einen Anschlag auf eine Synagoge verübt haben. Eine Frau mit dem jüdischen Namen Astèr Littman sucht nach ihrer Vergangenheit, weil sie bei ebendiesem Anschlag ihr Gedächtnis verloren hat. Sie kam nach Djerba, um dort einen früheren beziehungsweise ewigen Geliebten zu treffen, einen früheren Aktivisten der Hausbesetzerszene, der allerdings auf dem Weg nach Djerba mit seinem Boot in Seenot geraten ist.

Nun treibt er auf einer Rettungsinsel im Mittelmeer und richtet beim Warten auf Rettung seine vielleicht letzten Worte in ein Diktiergerät an Astèr. Auf sein Schiff, das doch nicht untergegangen ist, hat sich im selben Sturm ein afrikanischer Flüchtling vom Niger gerettet, dessen sämtliche Mitflüchtlinge ertrunken sind. Als er tatsächlich in Italien eintrifft, unterstellt man dem schwarzen Mann, das Schiff gekapert zu haben. Und so schreibt auch er seine Geschichte in ein Notizbuch auf und versteckt es in einem Winkel seiner Zelle.

Im Roman «Übers Meer» des Schweizer Autors Christoph Keller erzählen vier Menschen ihre Geschichte, die eigentlich ein und dieselbe ist: eine Geschichte «Übers (Mittel-)Meer», dem Planschbecken der abendländischen Kultur, Streitraum, Handelsraum, Zentrum einer alten Zeit. Seit Ende des Kalten Kriegs ist es wieder dasselbe Mittelmeer, an dem sich alles trifft: Ost und West mit dem Konflikt um Religion und Demokratieimport. Nord und Süd mit der Frage, wie die ausgebeutete Bevölkerung Afrikas ein Stück vom Kuchen abbekommt.

Daher geht es in allen Erzählungen darum, »Übers Meer» zu kommen. Den Afrikaner vom Niger zieht es dorthin, wo das gute Leben lockt, zum Preis seiner Menschenwürde. Der Djerbaner richtet seine Erzählung an Astèr, übers Meer nach Westen, um die Scham für seine terroristischen Bekannten zu signalisieren. Der ehemalige Aktivist muss ebenfalls übers Meer: er wollte zwecks eines vermessenen Kraftwerkprojekts die tiefliegenden Strömungen vermessen und hat darüber den heraufziehenden Sturm unterschätzt.

Nicht ohne Pathos

Die Geschichten sind mit viel Ernst und zum Teil etwas Märtyrerpathos erzählt. So die Erzählung des Afrikaners vom Niger, der aus der Perspektivlosigkeit flieht und nur auf Ungerechtigkeit stösst. Man liest seine Schilderung betroffen und zugleich etwas abgeneigt. Das Buch zitiert das Schicksal der «Boat People», das uns allen bekannt ist, das uns ratlos macht, und an dem wir alle nichts ändern, sei es aus mangelndem Können oder aus mangelndem Willen.

Der Text leiht sich von der bekannten Tragik etwas aus und speist damit sein eigenes Pathos. Mit dieser Doppelung, in der die bereits vorhandene Erschütterung nochmals aus dem Text spricht, wird er sehr bedeutungsschwer. Dazu kommt dann noch: Der Erzähler ist eigentlich einem Freund zuliebe geflohen, einem Dichter im Rollstuhl, der sich nichts so sehr wünscht wie freien Zugang zu Büchern. Dieser Bildungsmärtyrer, der im Mittelmeer ertrinkt, macht die Bedeutsamkeit nicht leichter. 

Aber genug davon, denn dies ist nur ein Aspekt. Das Buch erzählt die Geschichten seiner Figuren mit einer geistvollen und treffenden Sprache. Man steigt tief in ihre Hintergründe ein, man ist ihnen nah. Die Episoden folgen kursorisch aufeinander und es entsteht das Bild einer dichten Vernetzung, in der die Figuren zueinander stehen. Es sind weniger Lebensläufe von verschiedenen Kontinenten und Küsten, als vielmehr von einem gemeinsamen Lebensraum. Die zerbrechlichen Linien, die Christoph Keller durch diesen Raum zieht, sind tragisch. Zugleich erzählt er von Bezügen zwischen Menschen, die von Interesse und Austausch geleitet sind, statt von Terror und Ausweisung.

Christoph Keller, 50, ist in St. Gallen geboren und lebt in Basel. Der Autor, der ebenfalls Journalist ist, liest aus seinem Roman:

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