Der katholische Index der verbotenen Bücher war die berüchtigtste Buchzensur der Welt. Vor 50 Jahren erst schaffte der Vatikan ihn ab. Kirchenhistoriker Hubert Wolf räumt im Interview mit dem Mythos um den Index auf.
Charles Darwin und seine Evolutionstheorie liess man in Ruhe, Karl May jedoch war verdächtig: der deutsche Bestseller-Fabulierer gehörte zu den tausenden Autoren, gegen die die Inquisitionsbehörde der Römisch-Katholischen Kirche ein Zensurverfahren eröffnete.
Der Tipp kam von Aussen: Ein besorgter Katholik aus dem Rheinland und «treuer Sohn» der Kirche warnte 1910 in einem Brief an den Vatikan eindringlich vor den populären Winnetou-Romanen, insbesondere vor der Konversion des Apachenhäuptlings zum Christentum in dessen Stunde des Todes: «Irgendwie christlich», aber nicht mehr «korrekt christlich», also zuwenig katholisch, lautete das besorgte Fazit des anonymen Denunzianten. Die päpstlichen Zensoren nahmen ihre Arbeit auf.
Dass wir von dieser aus heutiger Sicht absurd scheinenden Episode Kenntnis haben, verdanken wir der ausserordentlichen Grundlagenarbeit des Kirchenhistorikers Hubert Wolf. Er erhielt als einer der ersten Wissenschaftler Zugang zu den geheimen Beständen im Archiv des Vatikan – sechs Jahre, bevor diese allgemein der Forschung zugänglich gemacht wurden.
Die Glaubenskongregation führte ihre Arbeit in der Regel geheim und ohne Anhörung des mutmasslich häretischen Autors durch, Prozessakten und Gutachten blieben unveröffentlicht, und manchmal erfuhren die Betroffenen vom Urteil mit Verspätung: nämlich dann erst, wenn eine aktualisierte Neuauflage des «Index Librorum Prohibitorum» veröffentlicht wurde, der berüchtigtsten Zensurliste der Geschichte: der katholische Index.
Vor 50 Jahren, im Juni 1966, wurde im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil, mit dem sich die römische Kirche für die Moderne fit machte, der Index nach über 400 Jahren abgeschafft. Das umfangreiche Archiv blieb trotzdem noch Jahrzehnte unter Verschluss, doch Hubert Wolfs Grundlagenarbeit öffnet einen tiefen Blick in Jahrhunderte kirchlicher Zensurgeschichte: Unter seiner Anleitung hat ein Team von Wissenschaftlern während 13 Jahren die gesamten Bestände das Inquisitionsarchiv des Vatikans durchforstet und dabei nicht nur Forschung zur Funktionsweise und den Diskussionen innerhalb der Indizierungsbehörde betrieben, sondern sich auch mit den bisher unsichtbaren Zensoren beschäftigt – ihren Biografien, ihren Karrieren in der Kirche, ihrer jeweiligen Funktion im Zensurapparat.
Das Projekt wird dieses Jahr abgeschlossen. Anlass genug, im Gespräch mit Hubert Wolf mit ein paar Mythen zum vatikanischen Index aufzuräumen:
Herr Wolf, was war die Zensurbehörde – ein bürokratischer Apparat oder eine fundamentalistische Überwachungsmaschinerie?
Hubert Wolf: Das Bild von der Behörde als ein gleichgeschalteter Big Brother, der alles verdammt, was ihm unter die Augen kommt, ist sicher falsch. In der Regel wurde die Kongregation erst nach einer Anzeige aktiv. Und danach gab’s oft Streit. Ein Gutachter sagte beispielsweise: Ein furchtbares Buch, das muss verboten werden. Aber dann forderten Kardinäle ein zweites Gutachten, und daraus entwickelte sich dann eine interessante Diskussion in der Kongregation. Dank unserer Forschungen kann man nun zu jedem Buch den Prozess nachvollziehen, man findet die Anzeige, die Sitzungsprotokolle, die Gutachten, den Beschluss der Konsultoren und schliesslich noch den Entscheid des Papstes. Und manchmal gab der Papst den Beschluss zurück mit dem Vermerk: Nicht überzeugend.
Der Index wurde jeweils öffentlich publiziert, man weiss also, dass die Werke von tausenden Autoren im Verlauf der Jahrhunderte verboten wurden. Wie viele wurden jedoch freigegeben?
Negative Zensurentscheide wurden nie veröffentlicht, nicht einmal die Autoren wussten in einem solchen Fall Bescheid, dass ein Verfahren gegen sie lief. In rund einem Drittel aller Verfahren wurde ein Werk von der Zensur verschont. Alle jemals in Rom untersuchten Bücher können nun rekonstruiert werden.
«Kaum ein Autor, den wir heute als Naturwissenschaftler bezeichnen würden, wurde zensiert. Nicht einmal Charles Darwin.»
Einer der bekanntesten Fälle ist der Prozess gegen Galileo Galilei und seine These vom heliozentrischen Weltbild. Hatte die Zensur die Naturwissenschaften besonders im Visier?
Das nahmen wir an. Wir dachten, das gäbe Stoff für einen Bestseller – die Kirche und die Naturwissenschaften, ausgehend von Galilei. Aber da ist fast nichts im Archiv der Glaubenskongregation zu finden. Kaum ein Autor, den wir heute als Naturwissenschaftler bezeichnen würden, wurde zensiert. Nicht einmal Charles Darwin, es gab kein Verfahren gegen seine Evolutionstheorie.
Das ist erstaunlich. Warum nicht?
Vermutlich, weil Darwin in der ‹Barbarensprache› Englisch schrieb, nicht in Latein. Man könnte sogar sagen, dass die Kirche indirekt die ernsthafte Naturwissenschaft gefördert hat, weil sie nach Galilei nichts davon indizierte – dafür aber massenhaft Publikationen zu Alchemie, Astrologie, Nekromantie. Alles, was heute als Pseudowissenschaft gilt, vor einigen Jahrhundert aber noch gleichwertig neben den Naturwissenschaften stand. Diese Konkurrenz hat der Index aus dem Weg geräumt.
Gab es grundlegende Kriterien, wann ein Verfahren aufgenommen werden sollte?
Nicht von Anfang an. Momentan schliessen wir die Arbeiten am 16. und 17. Jahrhundert ab, also die Frühzeit des Index. Dabei sind wir auf interessante Diskussionen in der Kongregation zu genau dieser Frage gestossen. Generell einigte man sich auf Schriften, die den katholischen Glauben bedrohen. Kriterium sollten die Kirchenväter sein. Untersucht man die Protokolle und verfolgt die Debatten zwischen Liberalen und Konservativen, merkt man schnell, wie auslegungsbedürftig diese Richtschnur war. Eine Verfahrensordnung gab es erst 1752 unter dem Pontifikat von Benedikt XIV. Davor war es Learning by Doing, würde man heute sagen.
«Die Kirche hat verschlafen, dass die Reformation vor allem eine medienpolitische Revolution war, die das neue Medium zu nutzen verstand.»
Eine grosse Zahl der zensierten Bücher sind theologische Schriften. Ging es der Inquisition vor allem um die Deutungshoheit über die Glaubensinhalte nach der Reformation?
Die Reformation spielte sicher eine zentrale Rolle. Die erste bekannte Äusserung aus der Kirche zum Buchdruck während des 5. Laterankonzils 1515 wertete ihn als wunderbare Erfindung, die Möglichkeiten bereithält, den Glauben zu verbreiten – und als ein Teufelswerk, weil dieselbe Möglichkeit auch gefährlichen Autoren offen stand. Die Kirche hat jedoch verschlafen, dass die Reformation vor allem eine medienpolitische Revolution war, die das neue Medium zu nutzen verstand. Als Konsequenz hat die Kirche dann Druckereien oder ganze Städte als Druckstandorte gebannt, die reformatorisch geprägt waren. Mit dem Hintergedanken: Was von dort kommt, kann nichts Gutes sein.
Basel feiert dieses Jahr den 500. Jahrestag der griechisch-lateinischen Bibelausgabe von Erasmus von Rotterdam. Er ist einer der wenigen Autoren, dessen Gesamtwerk von der Inquisition auf den Index gesetzt wurde. Was war so gefährlich an ihm?
Erasmus war in den Augen der Kurie viel gefährlicher als Luther oder Calvin. Die galten als Häretiker, von denen erwartete man nichts. Erasmus aber blieb katholisch. Seine Ausgabe der Bibel, basierend auf dem Urtext, forderte das katholische Selbstverständnis heraus, alleine über den authentischen Bibeltext zu bestimmen. Nach dem Prinzip: Nicht die Bibel macht die Kirche, wie die Reformatoren sagen, sondern ohne Kirche gäbe es die Bibel gar nicht. Denn sie hat die Texte und den Kanon festgelegt. Mit Erasmus wird der originale Bibeltext zuungunsten der katholischen Auslegung aufgewertet, und das gilt in den Augen der Kirche als ein protestantisches Prinzip. Es ist nicht erstaunlich, dass im Index kein Buch öfters aufgelistet ist als die Bibel – nämlich alle nicht von Rom autorisierten Übersetzungen. Die letzte stammt erst aus dem Jahr 1904.
Vom italienischen Regisseur Fellini gibt es den Satz: Zensur ist Werbung auf Staatskosten. Hat das Verbot Erasmus eher genützt oder geschadet?
Das können Erasmus-Kenner besser beurteilen als ich. Erasmus war mit Sicherheit ein Reformkatholik, der eine bescheidenere, sich an den Ursprüngen orientierende Kirche wollte. Dass er Gewissensprobleme mit seiner Kirche hatte, davon kann man ausgehen.
Warum wurde der Index vor 50 Jahren schliesslich abgeschafft? Aus Kapitulation vor der schieren Masse an Publikationen?
Das gab es schon vorher, dass Gutachter in mühseliger Arbeit ein Gutachten erstellten, und kaum war der Text fertig, schon die nächsten sieben Bücher zur Prüfung auf dem Tisch lagen. Ab dem 19. Jahrhundert fanden sich innerhalb der katholischen Welt immer mehr Stimmen, die den Index als Friedhof des Geisteslebens bezeichneten und stattdessen verlangten, die Kirche solle nicht länger verbieten, sondern Empfehlenswertes hervorheben. Die Zensurbehörde war, wie gesagt, nie ein gleichgeschalteter Apparat. Wo wir allerdings keinen Einblick haben, sind die Archivbestände ab 1939. Deren Öffnung wurde von Benedikt XVI., dem Vorgänger des jetzigen Papstes, zwar angekündigt, aber noch nicht vollzogen, was vor allem mit der Rolle des Vatikans während der Kriegszeit zu tun hat. Bekannt ist, dass nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch wenige Schriften zensiert wurden, etwa von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Natürlich würden wir gerne wissen, was sonst noch untersucht wurde. Aus der Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils, währenddessen der Index schliesslich abgeschafft wurde, ist ausserdem bekannt, dass vor allem mitteleuropäische Bischöfe den Index auf die Themenliste des Konzils setzen wollten. Wahrscheinlich, weil Buchzensur im europäischen Zeitgeist der Nachkriegszeit schlicht nicht mehr annehmbar war.
«Literatur aus evangelisch dominierten Ländern war oft nur als Schmuggelware erhältlich.»
Wie stark war denn die Sanktionskraft des Index überhaupt? Spätestens seit der Einigung Italiens hatte Roms Kirche keine politische Macht mehr, um Verbote durchzusetzen.
Ja, aber davor gab es während Jahrhunderten den Kirchenstaat. Sie reden nun aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts. Davor gab es katholisch geprägte Staaten und Monarchien. Man muss also genau hinschauen: Wenn im Zuge der Gegenreformation ein katholisches Land sich auf die Seite Roms schlug, war der Index Gesetz. Literatur aus evangelisch dominierten Ländern war oft nur als Schmuggelware erhältlich. Man darf nicht neuzeitliche Verfassungsrealitäten des 21. Jahrhundert mit der frühen Neuzeit vergleichen. Damals gehörte Zensur genauso zu polizeilichen Aufgaben wie Verfolgung von Mord und anderem. Zensur war ein selbstverständlicher Vorgang. In jedem Staat, in jeder Religion wurde zensiert.
Zensur gibt es bis heute, Deutschland führt noch immer eine Fachstelle für jugendgefährdende Medien. Tut man dem vatikanischen Index Unrecht, wenn man ihn als anachronistisches Machtmittel Kritik und Spott aussetzt?
Die Kirche hat sich mit dem Index keinen guten Dienst erwiesen, das ist klar. Ebenso klar ist, dass der Index in seinen letzten Jahrzehnten kaum noch Wirkung zeigte. Andererseits – anders als in Staaten, in denen Bücher ohne genaue Auseinandersetzung verboten wurden, steht in der Inquisition hinter keiner Zensur ein Pauschalurteil, sondern stets ein Untersuchungsprozess. Heute diskutieren wir über eine Zensur des Internet, und dabei gibt es Stimmen, die bestimmte Glaubenspositionen für ebenso gefährlich halten wie Anleitungen zum Bombenbasteln. Mit dieser Position habe ich Probleme, denn man muss Zensururteile differenziert betrachten.
Für das Internet gilt wie vor 500 Jahren für den Buchdruck: Neue Medien stellen Sinn und Unsinn von Zensur auf die Probe. Korrekt?
Ja, der heutige Sprung ist nicht grösser. Bis zur Erfindung des Buchdrucks hatte niemand ein Problem mit Büchern, weil die Buchabschrift per Hand ein so langsamer Prozess war. Der Buchdruck war ein gewaltiger Sprung, ich glaube, sogar ein grösserer als das Internet. Wie geht man mit der Spannung um zwischen der Freiheit, für die wir alle sind, und dem berechtigten Interesse, Dinge zum Schutz der Allgemeinheit zu zensieren? Als nachaufklärerische Gesellschaft muss man genau diese Frage immer wieder neu stellen, wenn man den Mensch als ein freies Geschöpf sieht.
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Hubert Wolf: «Index – Der Vatikan und die verbotenen Bücher», C.H. Beck Verlag, 2006.