Das Sinfonieorchester Basel erlebt Freuden und Frust des Touralltags

Zehn Tage lang weilte das Sinfonieorchester Basel in England und brachte Minimal Music auf die Bühnen. Dafür wurde es gefeiert. Zugleich aber stellt sich die Frage, inwiefern sich die Leistungsschau lohnt.

(Bild: Jean-François Taillard )

Zehn Tage lang weilte das Sinfonieorchester Basel in England und brachte Minimal Music auf die Bühnen. Dafür wurde es gefeiert. Zugleich aber stellt sich die Frage, inwiefern sich die Leistungsschau lohnt.

London, Ende April. Die typischen roten Doppelstockbusse rauschen rasant um den Sloane Square, schwarze Taxis hupen, Velofahrer mit Signalweste drängen sich frech in die Lücken. Wer ein Strasse überqueren will, muss lange warten, und jede Ampel verfügt über mahnende Strassenmarkierungen: «look right» weisen sie nicht nur den Linksverkehr-ungewöhnten Touristen an, denn mancherorts gilt «look left» oder gar «look bothways».

Dieser Platz ist laut und voller Bewegung, dennoch sind die Aussentische der umliegenden Bars und Restaurants am frühen Abend voll besetzt. Es ist eine feine Gegend, glatzköpfige Bodyguards thronen vor Kunstgalerien, weisen Rolls-Royces in die Haltezone ein, damit die berühmte Kundschaft ungestört weiterziehen kann.

Zwischen all dem Treiben fallen die drei weissen Reisebusse des Basler Sinfonieorchesters und die beiden Trucks mit all den Noten, Frackkästen, Kontrabässen und Pauken gar nicht auf. Sie halten vor der Cadogan Hall, einer zum Konzertsaal umgebauten Kirche. Seit zehn Jahren ist hier eine Musikszene gewachsen, die den kleinen, intimen Rahmen des Kirchensaales schätzt. Rolando Villazón tritt hier auf (mit dem Kammerorchester Basel), James Galway auch, das Tokyo Philharmonic Orchestra gibt sich mit dem Züricher Kammerorchester die Klinke in die Hand, und das Royal Philharmonic Orchestra hat hier sein Zuhause.

Für drei Konzerte ist das Sinfonieorchester Basel hier zu Gast, und das ist aussergewöhnlich: Ein eigenes «Mini(malmusic) Festival» wird veranstaltet, mit Dennis Russell Davies am Pult, mit insgesamt drei Solisten und mit Werken von Arvo Pärt, John Adams, Philip Glass und Michael Nyman – ausschliesslich zeitgenössische Musik, mit einem auswärtigen Orchester in einer Stadt, die selbst über zahlreiche hochstehende Klangkörper verfügt.

Ein Wagnis also, doch der hiesige Veranstalter, die grosse Konzertagentur IMG, ist zuversichtlich: Die Reputation von Chefdirigent Dennis Russell Davies und damit auch des Sinfonieorchesters Basel ist so gut, dass sich sogar die BBC für eine Live-Übertragung eines der sieben Tour-Konzerte entschieden hat und vorab zur Produktion von Rahmenbeiträgen mit einer Crew extra nach Basel gereist war.

Geheimnisvolle Aura

Derweil versuchen die Musiker, sich in den verwinkelten Gängen der Cadogan Hall nicht zu verlaufen. Das Haus strahlt noch immer die geheimnisvolle Aura eines Gotteshauses aus, auch wenn Teppichböden und rot besamtete Stuhlreihen für mehr Komfort und bessere Akustik sorgen. Eine Zusatztribüne beschert dem Orchester ausreichend Platz, und so kann die Einspielprobe beginnen.

Dennis Russell Davies probt kurz und zügig: Die ersten 30 Takte von John Adams‘ «Harmonielehre» sollen es sein, jene Takte, die mit ihren brachialen Paukenschlägen auch dem Publikum am Abend durch Mark und Bein fahren. Laut ist dieses Stück, gleichzeitig unheimlich filigran und geheimnisvoll. Allerlei Schlagwerk wird hier verlangt, das dem aus flirrenden Dreiklangsbrechungen der Streicher zusammengewobenen Klangteppich Kontur verleiht.

Als am Abend das erste Londoner Konzert mit diesem Stück endet, bricht tosender Applaus aus. An die 600 Menschen sitzen im Publikum, altersmässig bunt durchmischt, wie bei fast jedem der folgenden Konzerte. Minimal Music zieht, hat auch schon die Basler Zuschauer bei den Auftaktkonzerten zu dieser Tournee in ihren Bann gezogen. Es ist eine Mischung aus Techno und Esoterik, aus stupender Rhythmik und atmosphärischer Klangfläche, die diesem Stil eine divergente Anhängerschaft beschert. Philip Glass und Michael Nyman, zwei weitere Komponisten dieses Mini-Festivals, sind einst mit eigenen Bands durch die Welt getourt, ihre Werke wurden für zahlreiche Filmmusiken adaptiert. Diese Band- und Filmmusikliebhaber auch für ein Orchesterkonzert zu gewinnen ist das erklärte Ziel von Dennis Russell Davies. Denn nur durch eine Erweiterung des Repertoires sei dem Publikumsschwund in der Klassik-Szene zu begegnen, ist er überzeugt.

Im Stau

Am nächsten Tag geht es nach Basingstoke, einem kleinen Ort mit riesigem Einkaufszentrum. Der Feierabendverkehr verlängert die für eine Stunde geplante Busfahrt auf deren drei, doch ohne Murren und ohne Abendessen stürzen sich die Musiker auf die Bühne der riesigen Halle und geben ein fulminantes Konzert. Hier sind die 1400 Plätze nur zur Hälfte gefüllt, doch das Publikum klatscht mit seinem Applaus die leeren Plätze einfach aus dem Gedächtnis.

Eine Besucherin meldet sich gar beim orchestereigenen CD-Verkaufsstand und berichtet, dass sie dieses Programm schon in der Live-Übertragung am Radio gehört habe – und es unbedingt noch einmal live erleben wollte. Auch Orchestermitglieder werden immer wieder vom Publikum angesprochen, bekommen die Begeisterung eins zu eins zu spüren.

Es sind solche Momente, die die nötige Motivation immer wieder auf ein hohes Niveau heben. Denn bei einer solchen Tournee gilt es auch Strapazen auszuhalten. Permanent müssen sich die Musiker auf eine andere Umgebung einstellen. Das Warwick Arts Centre verfügt über eine so ausgezeichnete Akustik, dass hier einst Simon Rattle sämtliche Aufnahmen mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra realisiert hat. Anderntags gilt es, sich in der Corn Exchange in Cambridge mit enger Bühne und heikler Akustik zu arrangieren. Da hilft es auch nicht, sich an den Geschäftsleiter und die Stiftungspräsidentin zu halten und sich die Geschichtsträchtigkeit des Saales, all die berühmten Klangkörper, die hier gastieren, die tolle, an die Basler Kaserne erinnernde Atmosphäre vor Augen zu halten. Es ist extrem trocken, der Drive kommt nicht rüber. Dennoch ist das Publikum abermals aus dem Häuschen.

Gehörschutz wie bei Rockbands

Die wechselnde Akustik wird von den Musikern aber auch als eine Schulung der Aufmerksamkeit und des Gehörs positiv aufgenommen. Problematisch bleibt jedoch die Lautstärke des Programms. Der Orchesterwart hat vorab speziellen Gehörschutz verteilt, und bei der Probe wird er bereitwillig getragen. Grün, blau und rosa baumeln die bunten Ohrstöpsel um die Hälse, werden raus und reingesteckt, je nach dem, ob eine laute Stelle zu proben ist oder ob der Dirigent mit leiser, aber eindringlicher Stimme einen Hinweis gibt.

Zu Hause, im Basler Orchestergraben, ist Gesundheitsschutz betreffend Lärmimmissionen im Gesamtarbeitsvertrag verbindlich geregelt. Etliche Opern belasten das Gehör mit deutlich mehr Dezibel als die hier gespielten Konzertprogramme. Und doch will niemand offen darüber reden. Denn die Intonation leidet, das Gefühl fürs Instrument geht verloren, und damit auch der Genuss am Musizieren.

Auch andere kritische Punkte werden nur unter der Hand weitergegeben. Die Musiker sind angespannt, und auch wenn bis Redaktionsschluss jedes Konzert ein Erfolg war, bleiben sie nervös. Vielleicht liegt es an der immer noch ungewohnten Eigenständigkeit, die zwar programmatisch breitere Entfaltungsmöglichkeiten bietet, das Orchester aber auch grösseren finanziellen Risiken aussetzt – theoretisch ist jeder Musiker mit einer sechsmonatigen Frist kündbar. Als Beamtenorchester, als das die Basler Sinfoniker früher immer wieder beschimpft worden sind, kann man sie heute nicht mehr bezeichnen.

Zu Hause konnte das Orchester bis zuletzt seine Publikumszahlen steigern; auf Tournee geht es, um einem Aspekt des Subventionsvertrages mit dem Kanton gerecht zu werden: die Ausstrahlung des Orchesters zu steigern. Mit diesen Argumenten verteidigen Stiftungsratspräsidentin Barbara Schneider und Geschäftsleiter Franziskus Theurillat im Gleichklang Sinn und Zweck der kostspieligen Tournee.

Aufwendiges Networking

Doch wie lässt sich Ausstrahlung messen? Durch ausverkaufte Konzerte? Oder auch durch wenig besuchte, dafür aber umjubelte Konzerte? Durch Live-Übertragungen der BBC, die eher selten ausländische Orchester in ihr Programm aufnimmt? Durch aufwendiges Networking, gemeinsam getragen von Basel Tourismus, seinen Londoner Partneragenturen, den Basler Wirtschaftsverbänden, der Schweizer Botschaft und der Londoner Konzertagentur?

Vermutlich ist es ein Konglomerat aus all dem, und es ist nicht das erste Mal, dass eine Kollision verschiedenster Interessen zu Konflikten führt. Für die einen ist es wichtig, ein Publikum physisch vor sich zu haben, zu spüren, wie die gespielte Musik bei ihnen ankommt, wie sie resoniert, wie sie mitschwingt – da hilft auch die mentale Vorstellungskraft des Radiopublikums nicht.

Der Nachteil der Monotonie

Für die anderen ist es mühsam, dass sie mit Minimal Music keine Geschichten erzählen, sich in dieser Musik nicht ausdrücken können. Gerade bei einem Tourneeprogramm, das viel öfter zu spielen ist als die normalen Programme in Basel, brauchen die Künstler Musik, die ihnen auch etwas von der investierten Energie zurückgibt. Das kann ein Brahms oder Bruckner aufgrund der Hörgewohnheiten eher als die monotonen repetitiven Achtelnoten, die dem einzelnen Musiker kaum Inbrunst, dabei aber ein Höchstmass an Konzentration und Kondition abverlangen.

Wieder andere problematisieren, dass ausgerechnet ein physisch so kräftezehrendes Programm so oft zu spielen sei. Andererseits sind die Reisestrapazen bei dieser Tournee gering. Das in einem kleinen Vorort 40 Minuten von London entfernt liegende Businesshotel mit stark befahrenen Strassen auf der einen, dunklen Innenhöfen auf der anderen Seite und einem Frühstücksbuffet, das ausser Obstsalat und Müesli kaum etwas Gesundes zu bieten hat, ist immer noch besser als mitunter tägliches Kofferpacken und Weiterziehen zu den verschiedenen Konzertorten.

Es sind empfindsame Seelen, diese Sinfoniker

Da haben die Musiker schon ganz anders erlebt: die Reise nach China etwa, die Belastung durch den Jetlag, die vielen Hotelwechsel, bis das halbe Orchester mit Erschöpfung und Erkältung pausieren musste. Oder Moskau, jenes Abenteuer, bei dem durch Politik, Willkür, Wetter und Wodka beinahe ein prestigeträchtiges Konzert mit Liveübertragung zum Opfer viel.

Und dann finden sich noch etliche andere Dinge, die die Atmosphäre empfindlich stören können. Die ersten Pulte ringen mit den Gerüchen, die aus dem verschwitzten Jackett des fulminant aufspielenden Solisten strömen, die hinteren Pulte ringen mit der mangelnden Sicht auf den Dirigenten. Die meisten vermissen das tägliche Üben, die intime, meditative Zweisamkeit mit dem Instrument, die sich im musikerfreundlichen, aber hellhörigem Hotel kaum realisieren lässt.

Und schliesslich ist es nicht einfach, während zehn Tagen ausschliesslich in Gruppe unterwegs zu sein. Ein Kontrabassist vergleicht die Arbeit mit jener in einem Grossraumbüro mit neunzig Sitzplätzen.

Verständlich, dass so viel Nähe auch zu Abwehrmechanismen führt; erst recht, wenn unentwegt die Chefs und externe Beobachter mit dabei sind. Am Ende wollen die Musiker nicht einmal mehr Bilder veröffentlicht wissen, auf denen sie beim Musizieren zu sehen sind. Und das, obwohl einer aus ihren Reihen dabei ist, der mit grossem Engagement wunderbare Bildstrecken produziert. Zitate aus Frühstücksgesprächen über Freud und Leid des Musikeralltags werden grundsätzlich nicht freigegeben; negative Emotionen nur gerüchteweise verbreitet, Konflikte lieber ausgesessen als ausgetragen.

Es sind empfindsame Seelen, diese Musiker. Sie drücken sich mit Tönen aus und begegnen dem Wort, vor allem dem geschriebenen, mit grösster Skepsis. Mitunter spüren sie, dass ihre Existenz auf dem Wohlwollen der Gemeinschaft fusst, die ihnen mit ihren Steuergeldern die Auslebung ihres Traums ermöglichen. Ihr Beruf ist mehr Berufung, für die sie vieles aufgeben: regelmässige Arbeitszeiten, Autonomie, individuelle Gestaltungsräume. Für die sie sich aber auch mit Haut und Haaren einsetzen – statt Sightseeing in London steht tägliches Sportprogramm und individuelles Kräftesammeln im Zentrum, um am Abend auf dem Punkt in Höchstform zu sein.

Am Ende wird diese Tournee auch den Orchestervorstand beschäftigen. Er muss klären, inwiefern eine öffentliche  Institution wie das Sinfonieorchester Basel verpflichtet ist, ihre Arbeit nicht nur durch teuer bezahlte PR, sondern auch durch unabhängigen Journalisten beurteilen und beschreiben zu lassen, inwiefern auf einer solchen Tournee das Gleichgewicht zwischen Pressefreiheit und Privatsphäre gewahrt bleiben kann. All das muss auf den gleichen professionellen Stand gebracht werden wie die Durchführung der Konzerte.

Ein Erfolg ist die Tournee allemal: Noch in diesen Tagen hat das Orchester eine Wiedereinladung nach England erhalten. Im Herbst 2015 sollen sie in London und Umgebung ein klassisch-romantisches Programm präsentieren.

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