Das Theater Basel präsentiert Goethes «Urfaust» als gestrengen und zugleich pathetisch aufgeladenen Diskurs über die Rolle des Fräuleins in einem arg beengten Umfeld.
Aufgepasst! Margarethe, besser bekannt als das Gretchen, ist mehr als nur das naive Opfer-Dingchen, das zwischen Faust und Mephisto zerrieben wird. Damit dies auch der Hinterletzte im Publikum gleich zu Beginn merkt, hat das Theater Basel dem «Urfaust» einen Prolog vorangesetzt – neu geschrieben von einer «Dichterin» namens Ann Cotten.
«Der ‹Urfaust› war für Gretchens nicht geschrieben», heisst es darin im etwas aufgesetzten Goethe-Quasivers-Duktus. Und «dass die Heinrichs nur mehr kläglich sind». Das deutet auf eine feministische Neubetrachtung von Goethes Männerstück hin, in dem der Intellektuelle Faust mit teuflischer Hilfe das geplagte und ungebildete Unterschichtsmädchen Gretchen zugrunde richtet.
Kühle Analyse, pathetisch aufgeladen
Gespielt wird Goethes derbere und einfacher gestrickte Urversion des Stoffs, der entsprechend den Titel «Urfaust» trägt. Anders als bei seiner späteren Bearbeitung der berühmten Tragödie steht hier die tragische Liebesbeziehung zwischen Faust und Gretchen im Vordergrund. Eine Liaison fatale, die nur mit teuflischer Hilfe des Mephistopheles in Gang kommen kann, was ja bekanntlich gar nicht gut ausgeht.
Regisseurin Nora Schlocker verschärft in der kühl-analytischen und zugleich pathetisch aufgeladenen Inszenierung die Konzentration auf die drei Hauptfiguren. So sehr, dass nicht wirklich nachvollziehbar ist, warum sie die Nebenfiguren nicht ganz weggelassen hat. Wagner, die «Lustigen Gesellen in Auerbachs Keller», Marthe Schwertlein oder Gretchens Bruder (Florian von Manteuffel, Elias Eilinghoff, Michael Wächter, Liliane Amuat und Myriam Schröder) treten zwar auf – wohl um den konzentrierten Handlungsstrang etwas aufzulockern, was ihnen aber nicht wirklich gelingt.
Zappeliger Jungspund
Für die Regisseurin ist ganz klar das Gretchen die Hauptfigur der Tragödie: das arme Mädchen niederen Standes, das als Spielball des Selbstverwirklichungstrips des Jungwissenschaftlers Faust arg zerzaust wird. Lisa Stiegler verkörpert dieses Gretchen als heillos überfordertes Huschelchen, das sich mit stetig gross aufgerissenen Augen ins Verderben ziehen lässt. Zuweilen lässt sie eine Spur Leidenschaft aufblitzen, die aber sogleich wieder durch ihre Gottesfürchtigkeit manisch-depressiven Ausmasses zugedeckt wird.
Und trotzdem ist sie die stärkste Figur des Abends, was vor allem im zweiten – und ganz allgemein besseren – Teil des Abends zum Ausdruck kommt. Die Titelfigur Faust (Max Rothbart) ist hier nicht viel mehr als ein ganz in Rot gekleideter Schatten seiner selbst. Kaum zu glauben, dass man sich bei diesem fahrigen Typen einem «Docktor und Professor gar» gegenübersieht. Er wirkt eher wie ein unbeholfener – oder wie es im Prolog heisst: kläglicher Aufreisser-Typ, der ohne schwarzmagische Hilfe nicht weit kommen würde.
Bleibt Mephistopheles als der Dritte im elenden Bunde. Im «Urfaust» ist ihm anders als in den späteren Fassungen eigentlich nur eine Nebenrolle beschieden. Nicola Mastroberardino fühlt sich sichtlich wohl in dieser Rolle, die er sehr lustvoll ausspielt. Wer könnte diesem geballtem Mass an Charme schon widerstehen? Erst am Schluss offenbart dieser Mephistopheles sein wahres Wesen auch äusserlich, wenn er sein hübsches junges Gesicht zur Horrorclown-Fratze umschminkt.
Leerer Raum, schwülstig beschallt
Bestimmend in der Inszenierung aber bleibt Gretchens Welt: Mutter, Küche, Kirche, Tod setzen hier enge Grenzen. Entsprechend eng ist das Umfeld, in dem sich die drei Figuren bewegen und aus dem sie letztlich vergeblich auszubrechen versuchen. Ausstatterin Marie Lotta Roth hat entsprechend einen beengenden Raum geschaffen – ohne Fenster, mit einem hohen düsteren Getäfer und einer Spiegeldecke, die beim Blick nach oben alles zurückwirft. Das einzige Requisit im Raum ist eine Replik von Holbeins Gemälde «Toter Christus im Grabe», der von Mephistoteles aber bald schon unter teuflisch-ironischen Qualen weggeräumt wird.
Schlocker präsentiert ihren «Urfaust» letztlich als düsteres Märchen, ohne den Fühler nach irgendwelchen realen oder gar aktuellen Bezügen auszustrecken. Gretchen bleibt trotz des feministischen Ansatzes im Prolog Opfer, Faust ist der klägliche Täter und der Teufel bleibt Teufel. Gestützt oder besser massiv überhöht wird das Düster-Märchenhafte durch den geradezu frappant schwülstigen Sound mit Glockenspiel, Kesselpauken und Harmonium, der von den Seitengalerien des Balkons hinunter das ganze Theater in eine akustische Atmosphäre wie aus einem Horrorklassiker der frühen Tonfilmzeit taucht.
Alles in allem hinterlässt der Abend einen durchzogenen Eindruck. Am spielerischen Auftritt von Lisa Stiegler als neue Hauptfigur Gretchen liegt es nicht. Sie legt sich mit viel Emotionen und Kraft ins Zeug. Vielleicht liegt es daran, dass Faust zur kläglichen Figur zurückgestuft wird, dass die Inszenierung nicht so richtig einzuschlagen vermag. Opfer sind unter dem Strich halt doch weniger einnehmend als Täter.
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Theater Basel: «Urfaust» von Johann Wolfgang Goethe. Theater Basel, Schauspielhaus. Die nächsten Vorstellungen: 26. und 28. Oktober sowie im November.