Das verrückte Leben des Brian

Die meisten Menschen denken an Sonne, Sommer, Surfbrett, wenn sie den Namen Beach Boys hören. Dabei geht die tragische Geschichte von Mastermind Brian Wilson gerne vergessen. Der Spielfilm «Love & Mercy» beleuchtet die dunkle Seite der Band – und das ganz hervorragend.

Ein nachdenklicher Strandjunge: Paul Dano als Brian Wilson in «Love & Mercy». (Bild: Francois Duhamel)

Die meisten Menschen denken an Sonne, Sommer, Surfbrett, wenn sie den Namen Beach Boys hören. Dabei geht die tragische Geschichte von Mastermind Brian Wilson gerne vergessen. Der Spielfilm «Love & Mercy» beleuchtet die dunkle Seite der Band – und das ganz hervorragend.

In der kalifornischen Sonne schmelzen die Eiswürfel in den Drinks, die Trips auf der Zunge und die Herzen der Mädchen: Willkommen in den Surfin‘ Sixties, willkommen auf einer Hausparty der Beach Boys. Bei jener verbrüderten Popgruppe, die mit dem Surfbrett unterm Arm eine mehrstimmige Ode auf das Lebensgefühl der Jugend anstimmt und damit den Nerv ihrer Zeit trifft: «Surfin‘ U.S.A.», «Fun Fun Fun», «California Girls»: Ein Hit folgt auf den nächsten, dabei sind diese fünf Jungs doch gerade mal zwanzig geworden. Gar nicht so leicht, mit einem solchen Erfolg umzugehen, ohne durchzudrehen und den Kopf zu verlieren. Genau das widerfährt allmählich dem Vordenker der Gruppe: Brian Wilson, ältester von drei Brüdern. 

Um ihn dreht sich «Love & Mercy», der biografisch angelegte Spielfilm, den man diesen Sommer gesehen haben muss. Brian Wilson, geboren 1942 in der Nähe von Los Angeles, Bassist, Sänger, Songwriter. Mit seinen singenden Verwandten reitet er zunächst auf der Surferwelle (ohne wirklich zur Surfszene zu gehören, wohlgemerkt). Doch nachdem er die Pubertät und das strenge Regiment des Vaters hinter sich lässt, will er es mit mehr Akkorden aufnehmen. Der begnadete Komponist fühlt sich für Höheres berufen, die Beatles in den Ohren, die mit ihrem Album «Rubber Soul» vorgeführt haben, dass Pop experimenteller sein kann als sein Ruf. 

Komplexere Songs, komplexeres Leben

In Wilsons Kopf verknüpfen sich immer anspruchsvollere Arrangements. Zugleich wird auch sein Leben komplexer. 1964, von einer Panikattacke heimgesucht, lässt er die Band auf Japan-Tour ziehen, während er zu Hause seinen Frieden sucht: im Tonstudio. Er will der Welle vorauscrawlen, die Briten überholen, die Melodien in seinem Kopf auf Band bannen. Ein Jahr lang konzentriert sich der 23-Jährige auf Kompositionen und Aufnahmen, verpflichtet dafür einige der besten Studiomusiker seiner Zeit, die man als «Wrecking Crew» kennt. Perkussionisten, Blechbläser, Oboisten, Gitarristen, die unter der Ägide seines Produzentenvorbilds Phil Spector die legendäre «Wall of Sound» hochgezogen hatten und Popsongs so eine unerhörte Fülle verliehen. Diese klassisch ausgebildeten Musiker dirigiert er in neue Sphären, fordert sich und sie heraus, mit Arrangements und Experimenten; er zupft Klaviersaiten, baut Autohupen in die Aufnahmen ein, Cola-Büchsen, Tiergeräusche auch. 

«Pet Sounds» heisst das Album, das die Beach Boys 1966 im Rausch vollenden. Es führt die Popmusik seiner Zeit tatsächlich weiter, mit Hymnen, bei denen Gott seine Hand im Spiel zu haben scheint: Der Titel «God Only Knows» bildet dabei die Krönung. Für die kleinen Meisterwerke werden sie von Kritikern gelobt, und, für Brian Wilson viel wichtiger, von Paul McCartney dermassen bewundert, dass dieser später sagen wird, «Pet Sounds» habe die Beatles zu ihrem Meisterwerk «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» inspiriert.

Stimmen im Kopf

Von der grossen Masse in den USA allerdings, und das ist eine neue Erfahrung für Wilson und seine singenden Verwandten, wird «Pet Sounds» verschmäht. Zu verspielt, zu verschachtelt, zu ambitioniert. Zu wenig Beach dieser einstigen Boys. Den Sand lässt er in einem Anflug von Exzentrik zwar in sein Wohnzimmer transportieren, doch scheint sein Leben auch zunehmend zu versanden und er darin zu versinken. «Selbst die fröhlichen Lieder auf dem Album sind traurig», wirft ihm Sängerkollege Mike Love, sein Cousin, nach diesem elften Album vor.

Die Band, sie ist gespalten. Daran ändert sich auch nichts, als Wilson mit «Good Vibrations» eine Single nachschiebt, auf der er nochmals die ganze Welt in Schwingung versetzt: mit harmonisch perfekten Falsettgesängen und abgefahrenen Theremin-Klängen, Nummer 1 auf beiden Seiten des Atlantik.

Doch innerhalb der Band sind die Vibrationen nicht mehr gut. Mike Love will den Erfolg der Anfangstage zurück, Dennis und Carl Wilson zumindest ihren unbeschwerten Bruder. Doch dieser nabelt sich ab, verliert sich in der Drogenabhängigkeit, in einer Wolke und schliesslich sich selber. Statt Instrumente hört er Stimmen, die ihn verfolgen und nicht mehr loslassen.

Als die Band im Film eine Krisensitzung im Swimmingpool abhält, bleibt Brian Wilson auf Distanz zum Rest, im tiefen Wasser. Kommt zu mir rüber, ruft er seinen Brüdern und Cousins zu. Doch diese bekennen vielsagend: «Wir fühlen uns wohler in seichteren Gewässern.» 

«Smile», das nächste Meisterwerk, das er anstrebte, wird nicht wie geplant vollendet (erst 2004); es folgt der Absturz, der Einsturz, der Rückzug eines Mannes, der den Pop genial erhellend geprägt hat und nun in geistiger Umnachtung versinkt.

Ein Film wie ein Wilson-Song: Verschachtelt und mitreissend

All diese Episoden aus einem Musikerleben verpackt Filmregisseur Bill Pohlad mit grosser Liebe zu Detail und Dramaturgie in einen Film, der zugleich berührend, mitreissend und verschachtelt ist – wie ein schlauer Brian-Wilson-Song. Dass der verantwortliche Drehbuchschreiber Oren Moverman zuvor schon «I’m Not There», die gelungene Annäherung an Bob Dylan, verfasst hat, erstaunt nicht, wenn man sieht, wie auch in diesem Film der Protagonist nicht nur von einem, sondern mehreren Darstellern verkörpert wird.

In den Szenen, die in den Sechzigern spielen, ist es Paul Dano, dessen Talent uns erstmals in der feinen Komödie «Little Miss Sunshine» aufgefallen war, als er einen verschupften Teenie spielte. Er sieht Wilson in diesem Film nicht nur zum Verwechseln ähnlich, er reisst uns auch mit seinen entrückten Blicken und seiner Verve mit, als seien wir Zeugen eines Dokumentarfilms. 

Paul Dano spielt John Cusack an die Wand

Dano spielt mit seiner Ausdruckskraft den zweiten Brian Wilson an die Wand: John Cusack mimt den psychisch angeschlagenen Wilson der 80er-Jahre, der von seiner ersten Frau, seiner Band und seinem Glück verlassen worden ist. Bei aller Liebe zu Cusacks Affinität für Poprollen (wir erinnern uns gerne an die schöne Verfilmung des Popromans «High Fidelity»): Er wirkt blasser als Dano, ein bisschen wie im falschen Film.

Vielleicht ja auch, weil ihm gegenüber ein kontrollsüchtiger Mann steht, der sich Psychotherapeut nennt, aber viel eher als Psychopath erscheint: Eugene Landy, der auch im wahren Leben Brian Wilson mit überdosierten Pillen und seiner hypnotisch-bösen Art verformt statt gestärkt haben soll. Die finsteren Jahre zuvor – als Wilson monatelang in seinem Kopf und seinem Bett gefangen war, unfähig aufzustehen, aufzuwachen aus seiner Psychose, werden en passant eingeflochten, ebenso die Züchtigungen im Kindesalter, als ihn sein dominanter Vater regelmässig verprügelte, mit einer Wucht, die ihn auf dem rechten Ohr taub werden liess. 

Welch ein brutales Schicksal ihn zwei Jahrzehnte lang verfolgt hat! Das denkt man sich im Kino, und: Wie nahe göttliche Eingebung und teuflische Traumata hier beieinanderliegen. Geschickt führt Regisseur Pohlad die Bausteine einer Biografie zusammen, die uns erahnen lassen, wie hart der Kampf mit den Dämonen, wie lähmend die Ausbeutung durch Vaterfiguren gewesen sein muss. Und welch ein Wunder es ist, dass ausgerechnet dieser Brian Wilson, der älteste der drei Brüder, heute als Einziger noch am Leben ist. Nachdem ihn – und das ist eine der zentralen Geschichten in diesem facettenreichen Film – eine Frau aus der Verzweiflung und den Fängen seines Peinigers gerettet hat. Der Therapeut, Eugene Landy, missbrauchte seine Macht jahrelang, er manipulierte Brian Wilson einem Sektenführer gleich. Erst als er zu den horrenden Honorar- und Songcreditforderungen auch noch das Testament zu seinen Gunsten beeinflussen wollte, vermochte Wilsons spätere Ehefrau Landys Machenschaften aufzudecken und den Musiker zu befreien.  

Paul Giamatti spielt den cholerischen Psychiater im Film so erschreckend glaubwürdig, dass dies selbst Brian Wilson zu viel geworden ist, als er den fertigen Film sah. Er habe einen leicht dissoziativen Moment erlebt, sagte er danach. Noch einmal spürte der Mann, heute 72 Jahre alt, die Angst, die ihn jahrelang blockiert und gefangen hielt. «God Only Knows», was Brian Wilson, der Musiker, mit der verlorenen Zeit hätte anfangen und fertigstellen können.
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«Love & Mercy» läuft ab 11. Juni in den Schweizer Kinos.

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