Das Wunder der Welt in lyrischer Form

Am 1. Februar starb die polnische Dichterin und Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska 88-jährig in Krakau. Ein Nachruf.

(Bild: Keystone)

Am 1. Februar starb die polnische Dichterin und Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska 88-jährig in Krakau. Ein Nachruf.

Die Philosophie hat mit dem Staunen angefangen, die moderne Poesie in der Lyrik Wisława Szymborskas in ihm geendet. «Ich weiss, dass ich nichts weiss», diese Auskunft von Sokrates hat die Grande Dame der polnischen Lyrik, die wenig von ihrem privaten Leben preisgab, stets zum Credo ihres Schaffens gemacht. Das Staunen und Schauern war stets ihr eigenes dichterisches Terrain: «Ein Wunder, so weit man schauen kann: die allgegenwärtige Welt.»

«Mozart der Poesie»

Ein Wunder, das die Lyrikerin, 1923 in Bnin bei Posen geboren, seit «Deshalb leben wir» (1952), «Fragen, die ich mir stelle» (1954) und «Salz» (1962) besang. Als «Mozart der Poesie» wurde sie anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 1996 bezeichnet, aber wie bei Mozart ist jedes Leichte und Wolkenhafte ihrer Poesie dem Gewicht dieser Welt abgetrotzt. In jedem Moment ist der Hauch des Worts nahe dem Nichts, das abgrundtief wie eine uralte Luftblase aus silurischen Zeiten beiläufig aufsteigen kann:

«Ich gehe über den grünenden Hang.
Gras, Blümchen im Gras
wie auf einem Bild für Kinder.

… Der Blick schweift über andere Hügel in die Stille.
Als hätte es hier niemals Kambrium gegeben, nie Silur,
Felsen, die sich anknurren, / hochgetürmte Abgründe …».

Den Menschen entthront

Seit ihrem ersten Gedicht «Ich suche das Wort», am Ende des zweiten Weltkrieges geschrieben, weitete sich ihr Schaffen ins Unermessliche, ins Bedenken des jederzeit bodenlosen menschlichen Seins aus. Der Wind aus dem Nichts ist nie weit, im Nu kann sich das Unbedachte des Seins, das Nichts zeigen, das den Menschen wie im Gedicht «Hundert Freuden» gnadenlos entthront:

«Er wollte Glück,
er wollte Wahrheit,
er wollte Ewigkeit,
da schaut her!
Kaum unterschied er Traum und Wirklichkeit,
kaum dass er dahinterkam, er sei er,
kaum hatte er mit der Hand, der Herkunft nach einer Flosse,
den Feuerstein, die Rakete geschnitzt,
er, der in einem Löffel Ozean leicht zu ertränken ist,
zu wenig komisch sogar, um die Leere lachen zu machen…, da schaut her!»

Die Welt in einer Zeile

Wisława Szymborskas Gedichte sind Lichtungen ins anwesende Nichts. Wer sie liest, macht die glückliche Bekanntschaft, die Welt, wie sie denn hienieden und ohne (theologische) Zutat ist, in einer Gedichtzeile erfahren zu können. Das kann nur Poesie. «Dichterisch wohnet der Mensch» deshalb nicht nur bei Hölderlin und Heidegger, sondern auch bei Szymborska, weil sie, wie jede grosse Dichterin, die Welt neu erschliesst, ja überhaupt erst erfahrbar macht. Sie erweitert sie um eine wahrhaft moderne Dimension: Das tellurisch Zufällige, Kontingente unseres Daseins, unseres Planeten voller Licht in ansonsten dunkler Nacht. 

Wer läse nicht im Rot der Rosen, die ein Blinder in der Hand hält, das unermessliche Schwarz, das er täglich sieht? So verfährt auch die Dichterin Szymborska wie eine Soziologin, die sie selber gewesen war, auf indirekte Weise.

Was uns umgibt, die Leere ohne alle Notwendigkeit, kann durch sein Anderes erschlossen werden, wie im Gedicht Wolken: «Sie sind nicht verpflichtet, mit uns zugrunde zu gehen. / Sie müssen nicht gesehen werden, um weiter zu ziehen.» Was da an Menschlichem auf Erden sich unter Szymborskas Vision –  «Seht von den Sternen auf euch» – zeigt, ist zufällig, könnte auch anders sein. Die menschliche Einrichtung ist und ist nicht, das heisst nur für uns wie in diesem gnadenlos antihumanistischen und fast schon materialistischen Gedicht «Landschaft mit Sandkorn», das schon in seinem Titel romantische Motive bricht:

«Die Zeit lief mit einer wichtigen Nachricht vorbei
wie ein Bote.
Aber das sind nur unsere Vergleiche.
Erfunden die Gestalt,
eingebildet die Eile,
und unmenschlich die Nachricht.»

Die kolossale Leere

Da dichtet der Mozart der Poesie mit dem Hammer Nietzsches, da gewinnt sie Neuland, indem sie die kolossale Leere, die sich ihr philosophisch auftut, mit der Kraft der Poesie neu möbliert. Es bleibt dabei: «Die Trauer teilt sich nicht mit./ Der Himmel ist blau.» Aber in dieser nachmetaphysischen Leere meldet sich ein neues, beseeltes Zittern und Schauern an. Aus dieser wahrhaft modernen Kälte steigt Szymborskas lyrische Auskunft  mit neuer Wärme auf, ihr Schreiben gestaltet sich als «die Rache der sterblichen Hand». Aus tellurischen Urgründen steigt jetzt das Ich zur «Besonderheit» auf, aber es weiss, wie im Gedicht Gewimmel, woher es kommt: «Ich hätte weniger /einmalig sein können.»

Im aufsteigenden Gemeinsamen von Pflanzen und Tieren zum Menschen gibt es sympathetische Momente und weder «Krone» noch «Schöpfung». Und auch wenn die Pflanzen dieser Erde der Dichterin keine Namen nachrufen können, so bleibt die Einsicht: «Wir werfen Schatten nach denselben Gesetzen.»

Das ist lapidar, aber gleichzeitig Physik in kosmische Poesie erhoben! Das ist das grosse Vermächtnis ihrer Lyrik, zur Notiz verdichtet wie in diesem gleichnamigen Gedicht:

«Leben – die einzige Art,
Blätter zu treiben,
auf dem Sand nach Luft zu schnappen,
sich emporzuschwingen auf Flügeln;
ein Hund zu sein,
oder sein warmes Fell zu streicheln …»

Am 1. Februar dieses Jahres ist 88-jährig die grosse Dichterin in Krakau gestorben.

  • Wisława Szymborska: «Hundert Freunden». Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk. Übersetzt von Karl Dedecius, Suhrkamp 2005.  

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