Nach seiner digitalen Apokalypse «Der Circle» hat Dave Eggers einen neuen Roman geschrieben. «Eure Väter, wo sind sie?» ist wieder ein ganz und gar kritischer Eggers, aber dabei auch ein wenig diffus.
Eine Kolonie auf dem Mond. Das wäre was gewesen, eine kühne Vision, eine grosse Aufgabe für junge Männer. Aber nun spart der amerikanische Staat und die Kolonie ist vom Tisch. Das ärgert den 34-jährigen Protagonisten von Dave Eggers’ neuem Roman, ebenso wie die Tatsache, dass sich ein von ihm bewunderter Astronaut nun mit irgendeinem russischen Shuttle begnügen muss, obwohl er sich immer an die Spielregeln gehalten hatte.
Eggers’ Engagement als Gründer des unabhängigen Verlags McSweeney’s und als höchst produktiver Schreiber, der die Erträge seiner Bestseller grosszügig in soziale Projekte investiert, sind beeindruckend. Unermüdlich übt der amerikanische Kultautor Kritik an der Gesellschaft, am System, am amerikanischen Staat. In den dokumentarisch angelegten Werken «Weit gegangen» (2008) und «Zeitoun» (2011) entlarvte er die Tragödie eines sudanesischen Kindsoldaten und die Diskriminierung eines syrischen Einwanderers durch die Bush-Regierung. In seinen fiktiven Romanen «Ein Hologramm für den König» (2012) und «Der Circle» (2014) kritisierte er den industriellen und moralischen Niedergang der USA und die Überwachungsideologie der Social Media in einer total vernetzten Welt.
Nicht mehr Gut und Böse
Die Verhältnisse waren dabei meist klar. Es gab Gute und Böse, auch wenn sich die nicht sofort als solche identifizieren liessen. Es gab eine wütende Darstellung von Missständen und eine leidenschaftliche Aufforderung, diese zu beheben. In Eggers neustem Buch «Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?» sind die Dinge nun überraschend diffus. Es ist nicht mehr klar, wer Täter und wer Opfer ist, was kritisiert werden soll und wie die Lösung aussehen könnte.
Das Krisengebiet ist vorerst ein Inneres: Der wütende Protagonist Thomas leidet an Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen und will gewisse Fragen klären. Also betäubt er sieben Leute, von denen er sich Antworten erhofft, und verschleppt sie auf einen verlassenen Militärstützpunkt an der kalifornischen Küste, kettet sie an Pfeiler, füttert sie mit Müsliriegeln und fragt sie aus.
Darunter ist dieser Astronaut, der immer alles richtig gemacht hatte und nun doch nicht auf den Mond darf und ein im Vietnamkrieg verstümmelter Parlamentsabgeordneter. Und dann sitzen da noch Thomas’ drogenabhängige Mutter und eine Frau, die mit ihrem weissen Pullover mit Zopfmuster wunderbarerweise für ihn bestimmt zu sein scheint.
Die unfokussierten Verhöre sind eine Mischung aus Abrechnung mit Vergangenem und Perspektivensuche für die Zukunft. Thomas’ Fragenkatalog können wir ebenso wenig nachvollziehen wie seine zunehmende Empfindung von Schicksals- und Sinnhaftigkeit. Die Prinzipien und moralischen Werte, die er zu haben behauptet, werden nicht ersichtlich in seinen erratischen Sprüngen von einem heiklen Thema zum nächsten – Krieg in Afghanistan, kontroverse chinesische Staatsanleihen, Polizeigewalt, Vertuschung, Pädophilie – und von seiner Biographie zur Weltpolitik und zurück.
Ein Schuldiger muss her
So frustrierend vage Thomas’ Gedanken bleiben mögen, so fassbar wird sein emotionaler Zustand: Seine totale Überforderung mit der Welt und die in ihm angestaute Enttäuschung und Frustration. Seine Wut über nicht eingehaltene Versprechen. Sein verbissener Versuch, jemandem die Schuld an seinem verpfuschten Leben zuzuschieben. Sein Wunsch nach einem Plan, einer Spielregel fürs Leben, «irgendeinem universalen Kampf».
Eggers verleiht gerne denen eine Stimme, die in der Gesellschaft nicht zu Wort kommen: Opfern, Aussteigern und Diskriminierten. Auch Thomas gehört zu diesen Sprachlosen, die man nie hört, weil sie ihre Sicht der Dinge gar nicht erst zu verbalisieren vermögen. Indem Eggers den Roman ausschliesslich in Dialogen verfasst, stellt er die Bemühung des Formulierens an sich ins Zentrum, die Ungeordnetheit, in der sich weder Kritik am Bestehenden noch Perspektive auf Alternativen fassen lassen.
Ein lächerlicher Held
Das mag eine einleuchtende Abbildung eines individuellen – und in der Erweiterung auch kollektiven – Zustands von Orientierungslosigkeit sein. Dass es literarisch nur begrenzt funktioniert, hat mit Eggers’ Protagonist zu tun, der von Anfang an zu sehr wie ein Verrückter wirkt, dessen Fragen wir nicht ernstnehmen und dessen Handlungen – etwa die Notwendigkeit immer weiterer Entführungen – wir nicht nachvollziehen können. Thomas wirkt lächerlich mit seinen naiven Vorstellungen von romantischer Schicksalshaftigkeit und seiner Forderung nach einem vorformulierten Plan. Mit einem solchen Kidnapper und seinen holzschnittartigen Opfern entwickelt die Geisel-Situation keine Dynamik, sondern bleibt ein aufgesetzter Rahmen für eine Folge ähnlich klingender Dialoge, in denen sich nichts zuspitzt oder verdichtet.
In dieser Hinsicht ist Eggers allerdings konsequent. Denn in Thomas’ Leben ist alles ebenso lächerlich und sinnlos wie diese Geiselnahme. Das potenzielle Drama klingt dauernd an, stellt sich aber nie ein: Der Vietnam-Veteran wurde nicht im Kampf verwundet, sondern beim Mittagessen, weil einer seine Handgranate nicht gesichert hatte. Ein Freund von Thomas starb nicht als Märtyrer, sondern weil Polizisten eine Regel falsch ausgelegt hatten. Und auch ein Lehrer, der die Beininnenseite seiner Schüler mass, ist kein Krimineller, sondern hat sich nur «unangemessen» verhalten.
Da sind keine Väter, denen man Schuld zuschieben kann. Und Propheten gibt es auch keine. Perspektive und Sinn bleiben aus – im Leben genauso wie im ungeschickt inszenierten Entführungsdrama. Erkennbare Feinde und moralische Ziele gibt es nur noch in Videospielen. Eine so diffuse Welt ist anstrengend, auch für den Leser. Zumindest ein Teil der Frustration bei der Lektüre ist diesem Umstand zuzuschreiben. Insofern ist auch dieser holprige Roman typisch Eggers: unbequem kritisch.
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Dave Eggers: «Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?» Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten.