Figuren als Irrlichter im Beziehungsgeflecht und Herzschmerz-Melodien von Giuseppe Verdi: zur Premiere von Christoph Marthalers «Lo stimolatore cardiaco» am Theater Basel.
Es sei ein typischer Marthaler-Abend gewesen, vernimmt man nach der Premiere von «Lo stimolatore cardiaco» im Foyer des Theater Basel, und doch ist es keine rechte Plauderstimmung, die da aufkommen will. Vielmehr ein nachdenkliches Sinnieren über das, was in den vergangenen zwei Stunden eigentlich passiert ist. Zuvor noch herrschte aufgekratzte Premierenstimmung, grosses Hallo der Theaterfamilie, ein gespanntes Knistern lag in der Luft. Und danach: sitzen viele stumm in ihren Theatersesseln. Applaudieren mechanisch. Nur vereinzelt johlen Treue, einige Buhs gehören zum guten Ton. Applaus scheint einfach nicht die richtige Antwort zu sein auf das, was da auf der Bühne geschehen ist, viel zu laut, viel zu grob für all das Zarte, Zerbrechliche.
Treppauf und treppab
Christoph Marthaler kreiert diffizile Stimmungen mit starker Wirkkraft, fast so, als nähme er sein Publikum an die Hand, und lässt es aushalten, was es vielleicht gar nicht aushalten will. Langsamkeit zum Beispiel. Oder endlose Wiederholungen. Die Oper beginnt mit einer Endlosschleife der ersten Takte von Giuseppe Verdis «Falstaff», in seiner Einfachheit fast überspitzt pointiert gespielt vom Sinfonieorchester Basel. Doch wie sehr dieser Wechsel zwischen zwei Harmonien, dieses immergleiche Hin und Her nach einigen Minuten zur hässlichen Fratze seiner selbst wird, ist umwerfend. Dazu irrt der Chor des Theater Basels in der kalten Marmorhallenspitalarchitektur von Duri Bischoff umher, treppauf, treppab, fein herausgeputzt im Stil der 60er-Jahre (Kostüme: Sarah Schittek).
Melancholisch und melodisch
Später folgen überschwängliche Chöre und liebliche Duette aus dem Œuvre Verdis, seinen Opern «Otello», «Falstaff», «Il Trovatore» und vieles mehr. Mal leiten die Dirigenten Bendix Dethleffsen und Giuliano Betta den grossen Orchesterapparat zu voller Kraft an, mal wird kammermusikalisch ausgedünnt, gesungen von Stimmen mit eigenem Charakter: dem warmen Glanz der gestandenen Opernsängerin (Agata Wilewska), der durchdringenden Klarheit der Jazzsängerin (Tora Augestad), dem Charme der schlichten Schauspielerstimme (Jeroen Willems). Doch Verdis Musik steht stets in einem irritierenden Missverhältnis zum Bühnengeschehen, das sich den Herzschmerz der Melodien einverleibt hat und konzentriert wieder ausspuckt. Immer wieder gibt es plötzliche Liebesanfälle, Frauen und Männer, die das andere Geschlecht umklammern, bespringen oder auch nur unablässig verfolgen. Und es gibt Alte, frisch gestorben oder frisch auferstanden, man weiss es nicht. Komisch ist das, natürlich, aber immer wieder auch sehr melancholisch.
Handlungsarm und doch spannungsreich
Eine Handlung sucht man in dieser Oper vergeblich, doch die Figuren sind klar genug gezeichnet, dass man ihre Entwicklung im Fortgang des Geschehens mit Spannung verfolgt. Carina Braunschmidt zum Beispiel, die stets anders über die zahlreichen Treppen steigt und schleicht, eindringlich durch ihre Brille lugt, ein Faible für Feuerwehrschläuche entwickelt und nur wenig mit Worten sagt, unendlich viel aber mit ihrer konzentrierten Körpersprache. Überhaupt spielt das Ensemble mit einer Bühnenpräsenz, die ihresgleichen sucht. Jede Figur hat so viel Persönlichkeit, so viel eigene Körpersprache, dass man stets lesen will, lesen muss, was diese oder jene Krümmung bedeuten mag. Lieben diese Zwei sich? Liebt nur der eine? Wer von beiden? Worin liegt die Sehnsucht? In dieser Person, oder in der Liebe allgemein? Der körperlichen? Der seelischen?
Christoph Marthaler und sein Team haben einen intensiven, rhythmisch durchpulsten und musikreichen Theaterabend voller poetischer Bilder geschaffen, der im Irgendwo zwischen Herz und Seele berührt und nicht mehr loslässt. Nur nachdenken sollte man nicht allzu viel. Sonst riskiert man einen Anfall wie Ueli Jäggi: «un errore, un errore!»
Theater Basel. Nächste Aufführungen: 28. und 30.11., 2.12., 11.12., 31.12. 2011
Artikelgeschichte
28.11.: Detailkorrektur im zweiten Abschnitt («Falstaff»).